Demenz ist ein Elend – Teil zwei


Es fing vor gut zwei Jahren an: Recht bald im ersten Lockdown fand ich es enorm schwierig, meiner Mutter am Telefon klarzumachen, dass sie bitte schön daheimbleiben und mir diktieren solle, was ihr Schwiegersohn für sie einkaufen sollte.

Ich merkte natürlich, etwas was anders, und mit allem, was ich heute über diese Krankheit weiß, wäre mir gleich aufgefallen, was so anders war. So aber ließ ich mich gerne beruhigen, wenn andere meinten, sie hätten nichts an ihr bemerkt. Und mit 83 darf man ja auch tüddelich werden, nicht wahr?
Dass meine Mutter mir gegenüber schnell aggressiv wurde, war ja leider auch nicht wirklich etwas Neues; an mir hatte sie immer schon vieles auszusetzen gehabt. Wenn sie also nun nicht in der Lage war, mir ihre Einkaufswünsche zu diktieren, weil ich ihr nicht rechtzeitig Bescheid gegeben habe oder zu ungeduldig sei, dann klang das nicht so viel anders als sonst, wenn sie mich beschuldigte, ich würde mich zu selten melden.

Wir wurschelten uns also einige Wochen durch diesen Lockdown. Meine Mutter ging fast täglich einkaufen und wurde dafür von mir ausgeschimpft. Wenn sie Einkaufswünsche mitteilte, dann waren es absurde Dinge wie zwei Kilo Trauben oder das immer Gleiche wie Brot und Käse. Nie war es genug für eine Woche, nie etwas Frisches oder etwas Besonderes wie die Lakritze, die sie am liebsten mochte. Auch der Austausch von Geld und Einkäufen war kaum zu bewerkstelligen, sie verstand es einfach nicht mehr.

Mindestens einmal in der Woche rief sie an und war meist erstaunt, dass sie mich am Ohr hatte. Immer behauptete sie, ich hätte sie angerufen und würde stören. Oder aber sie klagte, die Fernbedienung des Fernsehers sei verstellt. Weshalb wir dann doch immer wieder zu ihr fuhren, um das zu reparieren, was sie in ihrer Verwirrung verstellt hatte. Ich war nun schon überzeugt, dass mit ihr etwas nicht stimmt, und verlangte, sie müsse zum Arzt. Sie kam mit den blödsinnigsten Ausreden, warum sie nicht drangekommen wäre, obwohl sie doch dagewesen wäre. Oder sie erklärte, alles wäre gut.

An einem Sonntag im Sommer kamen mein Mann und ich überraschend vorbei; wir wollten mit den Hunden in den Wald und schnell einmal nach ihr schauen. Sie wirkte durcheinander, strengte sich aber wohl an, dass wir nichts merkten. Ihre Haare klebten am Kopf. Sie lachte. Sie habe aus Versehen die Körpermilch mit dem Shampoo verwechselt. Nun ja …

Noch immer war ich die Einzige, die glaubte, es wäre ernsthaft etwas nicht in Ordnung, wollte mich aber nur zu gerne davon abbringen lassen. Dass andere nichts merkten, lag eben auch daran, dass meiner Mutter deren Meinung über sie wichtiger war als das, was ich von ihr dachte.

Dann im August, eine gute Woche vor dem Todestag meines Vaters, rief mein Bruder an, der meine Mutter am Telefon gehabt hatte. Sie habe sich kaum artikulieren können und dauernd von einem Kind und einem Mann gesprochen, von fehlenden Schlüsseln und einer Party. Ich solle bitte hinfahren, er befürchtete einen Schlaganfall.
Als ich ankam, stand meine Mutter in der offenen Wohnungstür. Es ist ganz eigenartig, wenn man vor jemandem steht und sehen kann, dieser Mensch ist nicht mehr derselbe. Wirklich, man sieht es. Sie musste nichts sagen, es war so eindeutig, dass sie nicht wusste, weshalb sie dort stand, und dass sie etwas sah, was mir verborgen blieb. Immerhin erkannte sie mich.
Sie nahm mich an der Hand, zerrte mich ins Schlafzimmer und ich glaube, mich erschreckte am meisten das Bett. Bislang war die Seite meines Vaters immer sorgfältig zugedeckt und glattgestrichen, einer seiner Teddys saß auf dem Kissen. Jetzt war es zerwühlt auf eine Weise … schwer zu beschreiben. Und da stand meine Mutter neben mir, ganz aufgeregt, und zeigte mit dem Finger auf die zerknüllte Decke und sprach von dem kleinen Mädchen, das dort säße. Es war unheimlich.

Ich rief den Notarzt, der sofort nach Demenz fragte. Und auch gleich erklärte, ich müsse mir keine Sorgen machen, er würde dennoch einen Wagen schicken; es müsse mir nur klar sein, dass es sehr wahrscheinlich wäre, wenn meine Mutter in der LVR bleiben müsste – möglicherweise in einer geschlossenen Abteilung.
Dorthin kam sie dann auch nach drei Tagen, die sie auf einer Normalstation verbringen musste. Es war die Hölle, denn sie wollte weg. Sie hatte keine Ahnung mehr, wer sie war oder wohin sie wollte, es war nichts als ihr Instinkt, der sie flüchten lassen wollte. Festhalten durfte man sie nicht und ich hatte Nacht für Nacht Angst, ich würde einen Anruf erhalten, man habe meine nackte Mutter irgendwo in der Stadt aufgegriffen. Das passierte zum Glück nicht, bis das Gericht die Erlaubnis erteilte, sie in die geschlossene Abteilung zu bringen.

Meine Mutter war kaum noch in der Lage, Wörter zu artikulieren, sie hatte Halluzinationen, vermischte Vergangenheit, Traum und Traumata mit Trugbildern und es war schlicht die Hölle, mit ihr zu telefonieren, wenn sie zugleich mit dem Papst sprach und sich im Jahr 1800 wähnte.
Einmal in der Woche durfte ich hin und ganz ehrlich, das macht war mit einem, wenn man mit dieser nun so fremden Frau in einem Zimmerchen hockt, in dem es nach Urin und Exkrementen riecht. Weil nämlich Inkontinenz und Demenz so gut befreundet sind.

Es folgten grauenvolle, belastende Wochen, in denen ich mehr oder weniger dazu überredet wurde, die gesetzliche Betreuung für meine Mutter zu übernehmen. Was gerade in der ersten Zeit sehr, sehr, sehr viel Arbeit ist. Die nicht leichter wurde dadurch, dass meine Mutter nun in die Phase kam, in der Geld das wichtigste Thema ist. Sehr, sehr, sehr wichtig. Alle Welt will sie über den Tisch ziehen, alle klauen, keinem kann sie trauen. Immer fragte sie mich nach Geld und Schmuck, wurde böse oder weinte, hatte abwechselnd Sorge, sie könne nichts bezahlen und wollte daher ihr Abendessen nicht zu ihr nehmen, oder aber sie erzählte allen, wie ich ihr alles abgenommen hätte.

Dann folgte der Umzug in die Demenz-WG. War meine Mutter in der Klinik dank der Medikamente gut händelbar, so wurde sie nun aggressiv. Sehr aggressiv. Und noch fremder. Nachts fand sie nicht in den Schlaf, obwohl sie bald schon Mittel bekam, die ein Nilpferd lahmgelegt hätten. Sie zog sich immerzu aus, schmierte ihre Ausscheidungen an Wände, Böden, ins Gesicht. Nackt rannte sie ans offene Fenster und schrie nach der Polizei, rief Mord und Hilfe, sie schlug die Pflegerinnen und Betreuerinnen, sie war böse und garstig zu den anderen Bewohnerinnen und mit mir erst rechts. Es sah nicht so aus, als würde sie bleiben können; tagelang habe ich völlig verzweifelt versucht, irgendwo einen Heimplatz aufzutun. In einem Umkreis von hunderten von Kilometern. Sinnlos.

Mein Glück war die wunderbare Ärztin der LVR, die die seelische Betreuung meiner Mutter übernommen hatte – und die Mutter eines Freundes meines jüngsten Sohnes ist. Sie hat mir so sehr wie meiner Mutter geholfen und mit der passenden Medikamenteneinstellung konnte meine Mutter bleiben, wo sie war. Niemals war ich so erleichtert. Nach einer Woche ohne Schlaf kam ich endlich zur Ruhe.

Meine Mutter auch. Sehr sogar. Nun schlief sie immer wieder ein, sah grau und bleich und mehr tot als lebendig aus, wenn sie in ihrem Bett lag. Dass sie mir zu verstehen gab, sie wünschte, so wäre es auch … damit konnte ich nicht umgehen.
Seitdem geht es weiter bergab. Mal körperlich, mal geistig. Bin ich dort, so habe ich selten das Gefühl, ihr damit etwas Gutes zu tun; sie braucht oft Minuten, bis sie mich wahrnimm, und noch einmal so lange, um mich zu erkennen. Oder zumindest zu glauben, ich wäre ihre Tochter. Was es für mich besonders schwermachte im ersten Jahr, war ihr Verhalten. Bei der Demenz, so heißt es, bleiben die Gefühle, die man für andere hatte, am längsten erhalten. Meine Mutter war mit gegenüber böse, neidisch und eifersüchtig in dieser Zeit. Etwas, was ich als kleines Mädchen schon empfunden, mir aber nie, nie, nie eingestanden hatte, selbst dann nicht, wenn andere meinten, so wäre es immer schon gewesen. Und dann sitzt du neben der Frau, um die du dich zu kümmern hast, und versuchst, dich damit zu trösten, dass sie doch nicht mehr weiß, was sie sagt. Ich hielt mich an den Momenten fest, in denen sie lieb und zutraulich war und mich schön und fein nannte. Das kam vor.

Ja, und nun stürzt sie sehr oft, war innerhalb einer Woche zwei Mal im Krankenhaus und ist kaum noch mobil. Wir werden sie dieses Jahr an Weihnachten nicht zu uns holen können; wir bekämen sie die Treppe nicht mehr hinauf und sehr wahrscheinlich würde sie panisch werden. Es ist halt nicht so, als hätte sie einfach nur vergessen, wer sie ist, wer wir sind oder wo sie ist: Sie befindet sich in jeder Sekunde unter Fremden in einer fremden Welt. Das muss die Hölle sein und ich kann sie ihr nicht ersparen. Das ist für mich Demenz.