Das Amulett der Nephthys


The Edinburgh Ladies’ College
Ende September 1890

Gleich, nur einen Augenblick noch, dann würde Miss McAlister nach ihr rufen. Blechern schrill und grundlos beleidigt wie stets.
»Miss Johnson!«
»Jonasson«, murmelte Amelia, sah aber dennoch lächelnd auf, als die Direktorin ins Lesezimmer trat.
Seit einem halben Jahr hatte sie versucht, dieser Frau beizubringen, welchen Namen sie sich gegeben hatte. Vergeblich. Sie sollte es besser wissen, als ihre Kraft an eine derart ignorante und selbstverliebte Person zu verschwenden.
»Miss Johnson, auf der Straße stehen vier Dienstmänner, die zu Ihnen wollen. Möchten Sie mir das bitte erklären?«
Amelia unterdrückte ein Schnauben und lächelte noch freundlicher. »Könnte es sich um die Lieferung aus London handeln, Miss McAlister?«
»London? Eine Lieferung?« Die große, etwas plumpe Frau runzelte die Stirn. »Welche Lieferung?«
»Das Lehrmaterial für Miss Gregorys Geschichtsstunden womöglich?«
Wirklich, die Direktorin war eine der größten Prüfungen ihres Lebens, dachte Amelia, und das wollte etwas heißen.
»Hmm, das sollte längst hier sein.«
»Es ist bislang nicht eingetroffen, Miss McAlister.«
»Sind Sie da ganz sicher?« Die Direktorin durchschritt den Raum, öffnete die Tür zur Bibliothek und schaute hinein.
Amelia gestattete sich ein Seufzen. Nahm das Weib etwa an, sie hätte nicht bemerkt, wenn zweihundert neue Bücher, ein Dutzend wandhohe Landkarten und diverse – vermutlich gefälschte – Kunstgegenstände aus aller Welt in ihrer Bibliothek abgestellt worden wären?
Miss McAlister baute sich vor Amelia auf. »Warum haben Sie nichts unternommen? Miss Gregory wartet voller Ungeduld auf ihr Material.«
Wieder lächelte Amelia. »Haben die Herren Kisten bei sich?«
»Woher soll ich das wissen?«
»Vielleicht sollte ich hinunter gehen und mit ihnen sprechen.« Rasch huschte sie an der Direktorin vorbei und widerstand der Versuchung, sie in den Lehnsessel zu schubsen.

Obwohl es schon gegen Mittag ging, war es recht dunkel in der engen Gasse, an der der Lieferanteneingang der Schule lag. Wie die vier Männer es geschafft hatten, die drei riesigen Holzkisten hierher zu schaffen, war Amelia ein Rätsel. Weshalb die Männer ausgesprochen mieser Laune waren, war jedoch offensichtlich. Es regnete in Strömen. Wahre Sturzfluten schossen die steile Straße hinab; glucksend und rauschend nahmen sie mit sich, was an Müll und Laub auf den Wegen gelegen hatte.
So leid es Amelia um die Herren tat, die bis zum Knöchel in den eisigen Fluten standen, so viel mehr sorgte sie sich um den Inhalt der Kisten. Für jeglichen Schaden würde die Direktorin wen verantwortlich machen? Die Bibliothekarin natürlich, an deren zu hohem Gehalt sie immerzu herumnörgelte. Ein Glück, dass Miss McAllisters Befugnisse nicht so weit reichten, es zu kürzen.
Sehr höflich bat Amelia die Herren, die Ware ins Haus zu bringen; sehr gerne, wenn es den Gentlemen nicht zu viel der Mühe wäre, in den ersten Stock.
Nun muss gesagt sein, dass Amelia Jonasson den meisten Menschen so wenig auffiel, dass sie sie kaum hätten beschreiben können, hätte beispielsweise ein Constable nach ihrem Äußeren gefragt. Sie erschien ihnen als eine Frau von durchschnittlicher Größe und unbestimmtem Alter, durchaus nicht unangenehm, aber ungewöhnlich blass und nichtssagend. Unscheinbar eben, obwohl ihre Augen von einem seltenen Türkisblau waren und ihr Haar nordischblond sogar unter dem trüben schottischen Himmel leuchtete. Wer sich die Zeit genommen hätte, sie genauer zu betrachten – oder vielleicht war es nicht Zeit, die man benötigt hätte, sondern Aufmerksamkeit, die sich in ihrer Gegenwart nur schlecht erhalten ließ – ja, wer sie genauer betrachtet hätte, hätte gesehen, wie königlich sie sich hielt.
Zwar entsprach ihre Figur nicht der Mode, aber die starken Schultern über einem schmalen Oberkörper und schlanken Hüften verrieten, wie schnell Miss Jonasson laufen, wie gut sie klettern und vermutlich wie kräftig sie zuschlagen könnte. Dabei war sie anmutig auf eine vitale Art, die höchst anziehend hätte sein können. Hätte man diese Dame jemals bemerkt. Dann wäre einem ihr voller Mund aufgefallen und die Zartheit ihres Teints, der völlig glatt und rein war und schimmerte wie ein Stein, den der Fluss über Jahrhunderte in eine geschmeidige Form gezwungen hatte. Man hätte ihre Hände bewundert, die sie überaus elegant bewegte, und mehr noch hätte man ihrer Stimme verzückt gelauscht.
Doch wie es nun einmal stand, fiel das niemandem auf. Man sah eine nicht allzu große Frau, die ihr Haar streng aus dem Gesicht gesteckt hatte und deren Augen hinter einer runden Brille versteckt waren. Eine Frau im schlichten grauen Kleid, das sie noch bleicher machte. Eine Frau, die es gewohnt war, zu gehorchen, und froh sein durfte, eine gute Stellung ergattert zu haben.
Eine Frau also, für die vier Dienstmänner nicht bereit gewesen wären, drei schwere Kisten über eine Treppe zu hieven. Im Ladies’ College war ein Trinkgeld nie zu erwarten und die Bitte einer unsichtbaren Frau war als Anreiz kaum genug, um diese Arbeit auf sich zu nehmen.
Und trotzdem: Sichtlich widerstrebend und murrend packten sie an und schleppten die triefenden Kisten über die sorgfältig gewachste Mahagonitreppe in den ersten Stock. Dort waren sie sogar bereit, die Deckel aufzuhebeln und die Seitenwände herabzulassen, damit Miss Jonasson leichter an den Inhalt käme. Noch mieser gelaunt als zuvor trampelten sie die Stufen hinunter und schüttelten mühsam ein leichtes Unwohlsein ab, über das sie niemals sprechen würden.

Amelia war es gleichgültig, was die Dienstmänner dachten. Wenn sie es nur wollte, würden sie diese Begegnung vergessen. Aber wozu? Ihr war es nur recht, hielten die Leute Abstand.
Sie schlüpfte in den weißen Kittel, den sie immer trug, wenn sie mit den ältesten Büchern der Bibliothek zu tun hatte. Oder eben, wenn eine Lieferung eintraf, von der nicht ausgeschlossen war, dass sie etwas Wertvolles enthielt. Das Edinburgh Ladies’ College war eine ehrwürdige Institution, für die die Honoratioren der Stadt ebenso wie ehemalige Schülerinnen gerne Geld ausgaben. Man schmückte sich damit, ungeheuer fortschrittlich zu sein, wenn es um die Teilhabe junger Frauen an Wissen und Bildung ging – seit zweihundertfünfzig Jahren erhielten hier die Töchter der besten Familien das, was als hervorragende Bildung galt.
Wozu Amelia eine eigene Meinung hatte. Gewiss hätte Miss McAllister nicht gerne gehört, dass das Unterrichtsniveau um einiges höher wäre, legte man bei der Auswahl der Schülerinnen mehr Wert auf Intelligenz und Talent als auf Namen und Vermögen. Es saßen nicht eben wenige Damen in den Klassen, die Mühe hatten, etwas anderes als einen seichten Liebesroman zu Ende zu bringen, während in den Armenvierteln der Stadt kluge und fleißige Mädchen keine Chance erhielten, ihr Leben zu verbessern. Derlei kümmerte die Direktorin nicht und es kümmerte auch den Schulbeirat nicht, der zumindest so vorausschauend gewesen war, Miss Jonasson als Bibliothekarin einzustellen. Obwohl eine solche gar nicht dringend benötigt gewesen wäre und schon gar nicht zu dem Gehalt, das sie ihr zahlten.
Was Miss McAllister täglich ärgerte.
Die Direktorin ärgerte sich auch nun. »Miss Johnson! Sie haben doch nicht etwa diese groben Kerle mit ihren dreckigen Schuhen durch meine schöne Schule latschen lassen? Miss Johnson!«
»Jonasson«, wisperte Amelia. »Weshalb nur bekomme ich das Weib nicht dazu, mich Jonasson zu nennen?«
»Miss Johnson! Grace wird das nicht wegwischen, sie hat anderes zu tun. Miss Johnson!«
Beherrsche dich, dachte Amelia, als sie ihre Arbeit niederlegte und die Bibliothek verließ. Wie immer blickte sie die Direktorin freundlich und scheinbar ergeben an, obwohl sie lieber darauf hingewiesen hätte, dass Elinor McAllister recht laut brüllte dafür, dass an ihrer vornehmen Schule doch Ruhe und Ordnung vorderste Pflicht waren.
»Sehen Sie sich das an! Überall Matsch und Dreck und Pfützen! Wie konnten Sie diese Kerle nur ins Haus lassen?«
»Ich bin leider nicht in der Lage, mannshohe Kisten zu tragen, Miss McAllister. Und bevor der Regen Miss Gregorys Material vernichtet, dachte ich -«
»Ja, das kommt dabei heraus, wenn man kleine Angestellte denken lässt. Gewöhnen Sie sich das ab und sehen Sie zu, dass der Schmutz fortkommt. Augenblicklich.«
Amelia antwortete nicht. Wenn die Direktorin einen Befehl ausgab, dann erwartete sie sofortige Erledigung und demütiges Schweigen. Eine Antwort hätte sie eh nicht mehr gehört, denn schon war sie in ihr Büro gestürmt, wo sie sich wahrscheinlich mit einem Whisky von den Strapazen ihrer großen Verantwortung erholte.
Einige Sekunden wartete Amelia ab, horchte, ob irgendwer in der Nähe war oder die Direktorin noch einmal umkehrte. Aber nein, niemand kam. Und niemand konnte sehen, wie es die Bibliothekarin nicht mehr als eine leichte Handbewegung kostete, um den – zugegebenermaßen beträchtlichen – Dreck zu entfernen, den die durchnässten Dienstmänner hinterlassen hatten.
Zufrieden nickte Amelia. Wenn nur jede Aufgabe so leicht zu erledigen wäre, so wäre sie längst dort, wo sie sein wollte. Zurück nämlich an dem Platz, an den sie und ihre Familie gehörten. Irgendwann würde es gelingen. All die vielen Rückschläge, die enttäuschten Hoffnungen – sie würden nicht vergebens gewesen sein.