Hedwig 1882 – Vornehme Pflichten


Frei von harter Arbeit, nicht von Pflichten.

Noch immer bestimmen andere, was Hedwig zu tun und zu sagen hat. Dass sie nicht gut genug ist für ihre neue Stellung in der Gesellschaft, zweifelt sie nicht an: Um zu lernen, was eine höhere Tochter der besten Gesellschaft beherrschen muss, wird sie in ein Pensionat geschickt.

Doch über Französischlektionen und Tanzunterricht kommen ihr Zweifel, ob sie sich für den richtigen Mann entschieden hat, denn nichts entscheidet in dieser Zeit stärker über Zukunft und Schicksal einer Frau als die Wahl des Ehepartners …

Der zweite Teil der Trilogie um eine junge Frau, die auf der Suche nach Respekt und Anerkennung das Wohlergehen anderer höher stellt als ihr eigenes Glück.

Villa Heimgarten

Eine gute Woche war vergangen, seitdem Maximilian Alexander von Kattwill erfahren hatte, dass Hedwig mit John verlobt war, und noch immer wollte er sich an diese Tatsache nicht gewöhnen. Natürlich nicht; er liebte sie und war davon überzeugt, dass ihr Glück sonstwo liegen mochte, aber gewiss nicht bei seinem besten Freund. Vielleicht lag es auch nicht bei ihm, so vermessen war er nicht, das zu glauben. Doch eine Ehe mit John würde Hedwig nicht froh machen können. Nicht, bevor sie die Zeit erhalten hatte, sich fortzubilden und zu begreifen, wer sie eigentlich war. Und wenn sie das einmal begriffen haben würde, dann würde sie wohl kaum John heiraten wollen.

Wütend trat Max gegen das Tischbein, was nicht nur albern und zudem schmerzhaft war, sondern ihm auch einen weiteren Verweis des Hilfspedells Müller einbrachte, der ihn nicht aus den Augen ließ.
»Kattwill, reißen Sie sich zusammen, sonst lasse ich Sie nicht raus«, rief der durch das Gitterfenster der Karzertür.
»Ich muss in einer halben Stunde im Geschäft stehen oder wollen Sie das für mich übernehmen?«
»Sie sollten mal mit dem Rektor klären, ob Sie das überhaupt dürfen. Von wegen Ehre der Universität und all das.«
»Wenn die Herren Professoren weiterhin Geld von mir erhalten wollen, bleibt mir nichts anderes übrig, als zu arbeiten.«
»Na, soll meine Sorge nicht sein. Wie ist es? Versprechen Sie mir, dass Sie sich benehmen?«
»Sicher. Nur lassen Sie mich endlich raus.«
»Die vierundzwanzig Stunden sind eigentlich noch nicht rum …«
Max verlegte sich aufs Schmeicheln. Er kam näher an die Tür. »Bester Müller, sagen Sie, wann habe ich jemals Ärger gemacht? Niemals zuvor, das müssen Sie zugeben.«
»Aber dann gleich dem armen Klingebeil die Nase blutig hauen? Hätte es nicht gereicht, ihn einen Saubeutel zu nennen?«
»Klingebeil ist kein Saubeutel, der ist sogar ein feiner Kamerad.«
»Warum haben Sie dann -«
»Ach, der arme Kerl kann gar nichts dafür, den hatte ich ja nicht treffen wollen.«
»Sondern?«
»Gucken Sie, lieber Müller, das schätze ich so an Ihnen, denn das alles hat Ihr Kollege Lugua nicht mal gefragt. Der hat mich gleich am Kragen gepackt und hierher geschleift.«
»Mein Chef ist halt ein harter Hund.«
»Ja, Sie sind mir lieber.«
»Dann seien Sie doch so gut und verraten mir, wen Sie eigentlich vermöbeln wollten.«
»Meinen besten Freund. Glauben Sie mir, der hat es verdient.«
»Warum?«
»Das, mein lieber, guter Müller, kann ich Ihnen nicht verraten. Noch nicht. Ist ja alles streng geheim. Und eine Riesensauerei.«
»Geht wohl um ein Mädel, wie?«
»Ja. Das ahnt mein Freund aber nicht.«
»Was denkt der denn, weshalb Sie ihn schlagen wollten?«
»Davon weiß der doch nichts. Er war ja gar nicht da.«
»Wieso haben Sie Klingebeil dann -«
»Bester Müller, ich verspreche, irgendwann erzähle ich Ihnen alles, nur lassen Sie mich raus, bevor ich meine Stelle verliere und mein Studium aufgeben muss.«
Der Hilfspedell seufzte, dann zog er doch den Schlüssel aus der Jackentasche und schloss die Karzertür auf. »Aber das ist versprochen: Sie erzählen mir, was passiert ist?«
»Sobald die Sache offziell ist, erfahren Sie in allen blutigen Details, was geschehen ist, versprochen.«

Zurück in Freiheit eilte Max in die Rheingasse 9, obwohl er sehr versucht war, stattdessen John aufzusuchen und ihm – anstatt dem armen Klingebeil – die Nase zu brechen.
Was er natürlich nicht tat. John hatte nicht die geringste Ahnung, wie es um seine Gefühle für Hedwig stand, und es wäre wenig klug, ihm diese zu offenbaren. Wenn er schon irgendwem hätte sagen müssen, was er für Hedi empfand, dann doch wohl ihr. Das hätte er längst tun sollen. Vor einem Jahr beispielsweise. Oder vor drei, vier Monaten zumindest. Oder vor einer guten Woche. Irgendwann dann hätte er ihr sagen können, dass er mehr in ihr sah als eine schwesterliche Freundin.
Allerdings fand er nach wie vor, dass es gute Gründe gegeben hatte und noch immer gab, den Mund zu halten. Hedis Jugend beispielsweise. Der Mangel an Geld und Zukunft seinerseits. Der Standesunterschied, auch wenn der längst auf ein Nichts zusammengeschrumpft schien. Und nicht zuletzt seine Überzeugung, es lösten sich diese ungebetenen Emotionen bald schon auf. Wie hätte er damit rechnen können, dass sie im Gegenteil immer mächtiger wurden, je erwachsener und selbstbewusster Hedi wurde?

Während des gesamten Nachmittags dachte Max darüber nach, ob Hedwig wohl glücklich war. Dass er ihr Glück wollte, war ja einer der Gründe, weshalb er den Mund gehalten und sie nicht belästigt hatte mit seiner Zuneigung. Weil sie immerzu von John redete, den sie für den schönsten, liebsten, besten und klügsten aller Männer hielt. Von ihm träumte sie und tat alles, was der sich wünschte. Da konnte man noch froh sein, dass John trotz seiner unbewussten Eigensüchtigkeit ein anständiger Kerl war, der nichts wünschte, was Hedi ins Unglück gebracht hätte. Dass er sie allerdings unglücklich machen musste, weil er das Mädchen nicht verstand, war für Max ausgemachte Sache.

Aber würde Hedi das genauso sehen? Sie hatte etwas an sich, so eine Ergebenheit in das Leben – sie würde vielleicht in Jahrzehnten noch nicht gemerkt haben, wie falsch John für sie war. War das dann noch ein Unglück zu nennen, wenn sie glaubte, es gut getroffen zu haben?
Was genau befürchtete er eigentlich? John würde sie zum Lernen anhalten, er wollte ja zu gerne den modernen Ehemann spielen, den politisch freigeistigen, den gegen die Gesellschaft rebellierenden Mann – da musste er Hedi sämtliche Freiheiten gewähren. Er hatte auch das Geld, das zu tun. Ja, wenn man es objektiv betrachtete, dann würde sie vielleicht doch sehr glücklich mit ihm werden können. Und wenn nicht, dann bräuchte sie einen guten Freund. Einen echten Freund, keinen verschmähten Liebhaber.

Es war wie verhext. Wie Max es auch drehte und wendete, es blieb aus seiner Sicht dasselbe: Er konnte und durfte Hedwig nicht sagen, wie er fühlte. Zumindest solange nicht, bis er wusste, wie sie zu dieser vermaledeiten Angelegenheit überhaupt stand. Nicht ein einziges Mal hatte er sie seitdem gesehen. Er musste bald mit ihr sprechen und ganz genau hinhören und dann entscheiden, wie es weiterging. Noch war diese Verlobung eine heimliche, noch konnte Hedwig sich anders entscheiden. Wenn sie auch nur den geringsten Zweifel an dieser Ehe hatte, dann ……
Ja, dann würde er ihr gestehen, sie zu lieben und bereit zu sein, alles zu tun, was sie wünschte. So war es ehrenhaft, so war es korrekt. Bis dahin blieb er ruhig.