Liebe Anita, besten Dank für Deine Briefe. In Deinem ersten Brief schreibst Du von einem alten Freund. Zu was darf ich mich zählen? Bekannter? Freund? Oder als was? Noch manche Fragen, die ich in den letzten Briefen an Dich gerichtet habe, hätte ich auch noch gerne beantwortet.
Bei diesem herrlichen Wetter kann man schon noch Fremde antreffen. Noch ist die kleine Stadt nicht im Winterschlaf. Am vergangenen Sonntag war ich im ‚Rathaus‘ mit Walter, einem Bekannten, tanzen. Wir saßen mit neun Mittelschülerinnen aus Frankfurt a. M. an einem Tisch zusammen. Es hat sehr Spaß gegeben, als Walter den Mädchen aus den Händen gelesen hat. Gestern war ich mit Walter im ‚Excelsior‘. Aber mein Herz hat beim Tanz allzusehr bum bum gemacht, darum habe ich mich mehr am Weine gelabt. Meine Gesundheit steht etwas in Frage. Mein Arzt sagt, ich sollte meine Mandeln herausoperieren lassen. Darum habe ich die letzte Zeit etwas Herzbeschwerden. Oder ist es die Sehnsucht nach Dir, meine sehr geliebte Anita?
Du kannst ja sehr gut und ausdrucksvoll zeichnen. Das finde ich nicht blöde, nur etwas gewagt für die Gefühle und Gedanken eines Mannes mit so viel Sehnsucht. Und der gewagte Blick, hoffe ich, will mir sagen, dass du mich ein klein wenig liebst.
Im besten Glauben grüsst
Dich herzlich
Dein Alfred
Es ist nach wie vor sehr eigenartig für mich, die Briefe meines vierundzwanzigjährigen Vaters zu lesen und dabei nicht zu wissen, was meine Mutter geantwortet und gefragt hat. Manches ist offensichtlich; in den meisten Briefen, die ich bis jetzt durchgesehen habe, scheint mein Vater das Schreiben meiner Mutter abzuarbeiten, weshalb er oft zwischen Themen zu springen scheint.
Was mir in diesen ersten Briefen nur vage ersichtlich war, verstärkt sich später noch: Mein Vater war einsam, obwohl er viele Freunde hatte und offenbar zuvor auch eine Freundin. Aber ich will nicht zu viel verraten; es ist erstaunlich, wie viel mit der weiteren Korrespondenz zu Tage tritt, wovon ich nichts wusste.
Was ich aber sehr schön finde: Immer wieder schimmert etwas wie Heimatfilm und Urlaubsstimmung durch. Ich weiß, wie wunderbar meine Mutter den ersten Besuch am Bodensee fand, wo keine Kriegsschäden zu sehen waren und man sich einbilden konnte, alles wäre himmelblau und rosarot. Als geborene Kölnerin war für sie der Unterschied frappant – selbst ich kann mich noch an Trümmergrundstücke in Bonn erinnern, die erst im Laufe der 1970er beseitigt wurden.
Zu meiner Mutter bekomme ich übrigens noch einmal eine andere Einstellung, aber dazu vielleicht beim nächsten Mal mehr.