Unerträglich


Es wird persönlich und da möchte ich – ausnahmsweise – darum bitten, dass all diejenigen, die damit nicht umgehen können oder wollen, einfach diesen Post überspringen; irgendwann heute möchte ich gerne mal wieder etwas Fertiges zeigen und dann ist alles wieder fein. Also zumindest in dem Post dann …

In acht Tagen wird es neun Monate her sein, dass mein Papa abends gegen 18.00 Uhr aufhörte zu sein. Zu dem Zeitpunkt war es nicht mehr unerwartet, im Grunde hatten wir – seine Familie – es ihm seit Tagen gewünscht. Aber wenn es geschieht … es ist nicht Erleichterung, die man dann verspürt. Und ich habe sie bis heute nicht gefühlt. Natürlich wollte ich nicht sein Leiden verlängern, aber ich kann es noch immer nicht fassen, es nicht ertragen, dass es so kam. Dass er so krank wurde. Dass es so hoffnungslos war. Dass es so schnell ging, so unfassbar schnell.

Ich weiß, nun wird bestimmt jemand denken, ich müsse ja so langsam mal darüber hingweg sein und dass es gar nicht fein ist, dass ich das so ausbreite. Wer das denkt, bitte: einfach weiter gehen. Denn ich brauche das. Das Geschehen in Worte fassen, sie aufschreiben und wegschicken: ins Nirgendwo und zu ein paar Freunden. Oder zu Menschen, die Freunde sein könnten, weil sie Gleiches erlebt haben und es immer noch in ihnen wühlt. Oder weil sie wissen, man wird um die Erfahrung nicht herum kommen, einen Menschen zu verlieren.

Manchmal, wenn ich eine Autobiographie lese, einen Erfahrungsbericht, einen Artikel, was auch immer – wann immer ich etwas lese, in dem es um einschneidende Erfahrungen geht und der Erzählende sagt, diesen oder jenen Namen oder das Datum oder einen anderen Fakt werde er nie vergessen – dann wundere ich mich. Ich weiß nicht mehr, wie die Ärztin heißt, die ich ungespitzt in den Boden hätte rammen können, wenn es nur etwas genützt hätte. Auch nicht, wie die wunderbaren Pfleger und Schwestern und Ärtze hießen, die zuletzt für ihn da waren. Nur mit Mühe bekomme ich die Daten zusammen, außer dreien:

Am 18. Juli fuhr mein Vater zum letzten Mal selbstständig mit seinem Auto und das unter größeren Schmerzen, als wir ahnten und er wohl wahrhaben wollte. Am nächsten Tag ging er nach meiner Standpauke das erste Mal ins Krankenhaus, was ihn sehr große Überwindung kostete. Seit Wochen, Monaten war er bei einem Arzt in Behandlung, der die Schmerzen und den wachsenden Höcker in seiner Brust wohl als Alterserscheinung, als eine Mischung aus Verschleiß und Einbildung abtat. Alte Menschen gehen ja schließlich ständig zum Arzt, nur weil ihnen langweilig ist. Erst recht, wenn sie eine Vorgeschichte wie mein Vater haben: Tumor hinter dem Auge, OP, Auge erblindet, jährliche Kontrolluntersuchungen seit Mitte der 90er. Dann ein bösartiger Tumor in der Schilddrüse, OP, halbjährliche Kontrolluntersuchungen in der Röhre, die mein Vater nicht ertragen konnte. Nichts, was eine Rolle gespielt hätte – Elektrotherapie war der Weisheit letzter Schluß. An den Armen, da strahlt halt was aus. Eine Röntgenaufnahme, nachdem es ja nicht besser, sondern schlimmer und schlimmer wurde – hätte sie vielleicht noch etwas ändern können? Wir wissen es nicht und wollen es vielleicht auch nicht wissen.

Danach habe ich eine Lücke – ich kann mich nicht erinnern. Ich weiß, wir waren manchmal gereizt und genervt, mein Vater konnte sich ranhalten mit dem Thema. Ständig forderte er uns auf, diesen Knubbel zu spüren – der Arzt meinte nun, es sei eine Verwachsung, die sehr oft bei jungen Frauen vorkommt. Mein Vater fand das nach außen hin manchmal spaßig, beschäftigte sich sehr mit der Diagnose, wußte bald alles darüber. Und vielleicht auch, dass es das nicht sein konnte. Aber ist man nicht froh, wenn die schlimmsten Ängste nicht bestätigt werden?

Wir konnten ihn überreden, doch noch einmal zu einem anderen Arzt zu gehen. Dem gefiel nicht, was er sah, mochte auch die Blutwerte nicht, aber wußte auch nicht so recht weiter. Schickte ihn durch ganz Bonn für Untersuchungen, sammelte Daten und Ergebnisse und wollte ihn am liebsten einweisen lassen. Die Arme meines Vaters schmerzten immer mehr, er konnte kaum noch etwas halten. Es stand das erste Mal die vage Möglichkeit im Raum, es könne wieder ein Krebs sein. Aber auch das machte noch keine zu große Angst: zweimal hatte mein Vater das überstanden und beide Krebsarten waren nicht zurück gekehrt. Hauptsache, man weiß endlich, was los ist. Aber was davon wann und wie stattfand, ich weiß es nicht mehr.

Die Sommerferien begannen in der 2. Juliwoche und die Jungs hatten eine Woche lang von morgens bis abends Tennis und ich weiß, dass ich beim Abholen mit einer anderen Mutter kurz ins Gespräch kam und sagte, es könne sein, dass mein Vater schwer erkrankt sei und dass mir das Angst mache. Oder war es später als in der ersten Ferienwoche? Es ist einfach weg, vernebelt und diffus.

Am 18. Juli hatte unser Jüngster seinen 6. Geburtstag und wie immer verlangte er sein Geburtstagsessen auf dem Chinesischen Schiff, das hatte fast schon Tradition. Natürlich mit Oma und Opa. Wir hatten schon überlegt, wie wir es anstellen würden, damit beide auch würden da sein können. Ich weiß nicht mehr, ob ich schon wußte, was war. Warum ist das weg? Anderes danach war schlimmer und ist noch klar … mein Vater wollte nicht von uns gefahren werden, er fuhr selbst. Und er sah gut aus. Mein Papa legte immer großen Wert auf Kleidung, liebte Borsalinos und Bally-Schuhe. Die er sich immer mal wieder leistete von schwer verdientem Geld. Und obwohl meine Mutter seinen Schnäuzer nie mochte, trennte er sich davon nicht – als ich klein war, war ich fest davon überzeugt: Echte Männer haben Schnäuzer und dunkle Haare.

An Tommys Geburtstag saßen wir das letzte Mal alles zusammen an einem Tisch. Kuchen bei uns wollte er nicht mehr, er wollte nach Hause, vollkommen erschöpft. Als meine Mutter am nächsten Tag in der Stadt unterwegs war, um ihrem älteren Enkel auch eine Uhr zu kaufen, rief ich meinen Vater an – er solle doch bittebitte sich wie vom Arzt gewünscht in die Klinik einweisen lassen – man könne dort viel besser für ihn sorgen, es sei doch zu anstrengdend, für jede Untersuchung unnötige Wege auf sich zu nehmen. Er wollte nicht, für ihn ist es unerträglich, mit anderen Menschen so eng zu schlafen, sich ein Bad teilen zu müssen. Ich fühlte mich gräßlich, als ich ihn dennoch dazu überreden wollte. Er wurde wütend und knallte den Hörer auf. Eine Stunde später rief meine Mutter an, mein Vater habe sich entschieden, doch ins Krankenhaus zu gehen, sie warte nur noch auf die Überweisung vom Arzt. Von einem Taxi wollte ich nichts hören, ich fuhr hin und brachte beide hin – die Klinik liegt nur den Hügel hoch am Ende unserer Straße, mitten im Wald. Die Aufnahme habe ich mit meiner Mutter erledigt und bin dann nach Hause. Es war ein Donnerstag, das weiß ich. Am nächsten Tag erfuhr zumindest ich noch immer nicht, was denn los wäre – man kümmerte sich erst einmal um die Arme und sprach davon, dass man die Ursache später herausfinden würde. Der rechte Unterarmknochen war nahezu komplett ausgehöhlt, was mit dem linken war – ich weiß es nicht mehr. Sollte er später folgen, reichte eine andere Behandlung – es ist weg. Am Montag sollte mein Vater operiert werden: der Knochen sollte wieder aufgefüllt werden.

Am Samstag davor kamen die Lindauer: die Schwester meines Vaters mit ihren Töchtern und einem Schwiegersohn. Eine Überraschung, die mich verwirrte – wie ernst ist es denn? Mein Vater fühlte wohl das Gleiche, denn als sie so unvermutet mit uns zusammen ins Zimmer traten, musste er nach dem ersten Erstaunen lachen und er fragte, ob es denn jetzt gleich mit ihm zu Ende ginge, da sie alle hier herum stünden? Das war das erste Mal, dass mir kalt wurde, dass ich hoffte, ich würde über dieses Erschauern ein halbes Jahr später lachen. Ich tat es nicht.

Die Operation verlief gut, man vermutete einen Krebs, aber alles schien immer noch in Ordnung zu sein, irgendwie. Man wußte nichts genaues und hektische Eile war auch nicht fest zu stellen. Auch mein Papa machte keinen trübsinnigen Eindruck, eher einen tyrannischen meiner Mutter gegenüber. Ständig hatte sie was zu besorgen, ständig rief er sie an, wenn sie nicht bei ihm war und orderte dieses und jenes, war ungeduldig und manchmal ranzig wie er es sonst auch konnte.

Nach einer Woche wurde er entlassen und hatte nun einen Termin bei seinem Onkologen, der ihn auch zuvor begleitet hatte. Knochenkrebs, das war es nun also, aber wie weit, wie schlimm, wie aggressiv? Mein Vater bekam Chemotherapien, Bestrahlungen sollten dazu kommen. Die nur am anderen Ende der Stadt durchgeführt werden konnte – Bonn mag ja als klein gelten, aber von unserem Ende bis zur gegenüberliegenden Seite – das war keine Spazierfahrt. Allein die Vorbesprechungen schlauchten ihn, wie er nach den eigentlichen Bestrahlungen dann sich fühlen würde, das mochten wir uns gar nicht vorstellen. Zu zwei Chemositzungen fuhr ich ihn und dann kam ein zweiter Augenblick, der mir eingebrannt ist: Mein Vater stieg mit Mühe vom Beifahrersitz und musste von dort aus eine kurze Treppe zum Haus des Arztes gehen. Er blieb am Treppenrand stehen, hielt sich am Geländer fest und sammelte Kraft – mich nahm er gar nicht mehr wahr in dem Moment und ich konnte nicht losfahren, ohne sicher zu sein, er kommt unten an – mitkommen sollte ich ja nicht. Da stand er, die Hand auf dem Geländer mir seitlich zugewandt, aber den Blick nach oben auf ein paar Vögel gerichtet. Gute Schuhe, Sommerhose mit Bügelfalte, Leinenblazer, Hut – für einen Moment kam er mir wie ein feiner, fremder und älterer Herr vor. Ich ermaß, wie schwer ihm der Krankenhausaufenthalt gefallen sein musste, wieviel Leid und Angst da war und wie sehr er das nicht wahrhaben wollte und konnte. Als ich zu Hause war, habe ich das erste Mal aus Angst geweint.

Nach den Sitzungen kam er kaum noch hoch, konnte zu Hause kaum noch etwas tun und meine Mutter konnte das nicht schaffen: ihn stützen und bei Laune halten. Ich fand, dass, auch wenn heutzutage wohl alles ambulant gemacht werden kann, das nicht ideal für meine Eltern war. Und nach einem Gespräch mit einer Freundin, die mit dem Arzt meines Vaters befreundet war, rief ich diesen an. Am 2. August kurz vor 8:00 Uhr morgens. Mein Vater sollte in zwei Stunden erneut in das weit entfernte Krankenhaus fahren und meine Mutter war nervös, wie es ihm wohl gehen würde danach. Und ich bat den Arzt, ob es denn nicht doch möglich wäre, in wieder einzuweisen, er könne das doch nicht schaffen… er unterbrach mich und meinte, es sei gut, dass ich mich melde, offenbar hätten meine Eltern in all der Sorge und Angst nicht mitbekommen, dass mein Vater heute nicht zu einem Gespräch, sondern zu einem dreiwöchigen Aufenthalt in die Klinik ging. Und dann sagte er mir, das sei die einzige Chance meines Vaters, es sei sehr spät, die Krankheit sehr weit vorgedrungen und wenn er das nicht mache, dann könne jederzeit alles passieren …
Ich habe meine Eltern angerufen, ihnen erklärt, was nun geschieht, dass ich sie abholen würde und habe aufgelegt. Und eine Stunde lang geweint, geschluchzt, geschrieen und mit der Fassung gerungen. Das erste, was mir auffiel: mein Vater hatte sich den Schnäuzer abrasiert – meine Mutter hattes es in der Aufregung nicht einmal bemerkt. Wieder so ein Moment, der mir Angst machte. Als wir ankamen, blieb mein Vater im geparkten Wagen sitzen, erschöpft und in sich gesunken, während meine Mutter einen Rollstuhl besorgte und ich die Aufnahme erledigte – solange ich etwas zu tun hatte, war ich gut. Ich war zuversichtlich, etwas ungeduldig und nahm alles in die Hand. Ewig lange saßen wir im Flur, weil das Zimmer noch nicht frei war. Der Einstieg war nicht gut – mein Vater war so unendlich weit weg und ich weiß noch, wie ich dachte: jedem Fremden, der so vor dir säße, hättest du schon längst einmal die Hand gestreichelt. Aber bei meinem Vater ging das nicht – es ist wohl die Generation meines Vaters und meine, die mit derlei Selbstverständlichkeiten eben nicht selbstverständlich umgeht.
Nach Stunden endlich war mein Vater in seinem Bett und wollte nur noch Ruhe. Ich bin mit meiner Mutter noch etwas in Godesberg essen gegangen und alles war so seltsam unwirklich. Am nächsten Morgen sind wir wieder hin und wollten meinen Vater etwas aufmuntern und wir waren froh, als er sagte, ja, er habe Appetit auf Eis, das Wetter sei so schön, wir könnten ja ins Klinikcafé hinunter. Als wir später nach Hause fuhren, waren meine Mutter und ich geradezu euphorisch: Gut sah er aus, gelacht hatte er, er ist kampfbereit – nicht heilbar bedeutet nicht gleich den Tod. Ich fühlte eine Last abfallen. Am nächsten Morgen sehr früh rief ich meinen Papa an, wollte wissen, wie er die Nacht verbracht habe. Es ginge ihm nicht gut, er wolle nicht mehr und er wolle auch nicht am nächsten Morgen wieder durch ganz Bonn gekarrt werden, nur um in die Röhre zu kommen. Die könne er nicht mehr ertragen und es sei auch egal, wo der Krebs herkomme. Er will nicht durch all das. Ich, seine Tochter, solle das verhindern und ihm einen Platz zum Sterben besorgen. Ich blieb ruhig und versprach es ihm. Es kam mir gar nicht in den Sinn, ihm das ausreden zu wollen. Und frage mich immer wieder: hätte ich das tun sollen? Hätte ihn das retten können? Wollte er etwas Aufmunterndes hören? Ich weiß es nicht.

Ich bin mit Steve hingefahren, die Kinder blieben bei Oma, und es war nicht leicht, an diesem Sonntag klar zu machen: er will nicht mehr. Man strich den Transport, mehr konnten wir nicht tun. Mein Vater war relativ entspannt, aber fühlte sich unwohl: er bekam Morphiumpflaster, die – wie mir der Arzt der Palliativstation ein paar Tage später erklärte – langsamer wirken, schlechter dosiert werden können und sich schlecht abbauen. Und für Angstzustände und Panikattacken sorgen. Am Montagmorgen, bevor ich wieder hinfuhr, telefonierte ich mit meinem Vater, er war aufgelöst, hatte Schmerzen und ihm war unerträglich heiß. Und litt unter einem Alptraum, in dem er nach Hause wollte und uns nicht mehr finden konnte. Wenn ich ihn bat, doch zu klingeln und zu sagen, er habe Schmerzen, dann weigerte er sich – ihm war das nicht nur unangenehm, es war zu anstrengend geworden. Als wir ankamen und mit der Stationsärztin sprachen, schien ich in einem schlechten Film gefangen: ich erklärte ihr, wie schlecht es meinen Vater ginge, dass er unter der Hitze leide, doppelt, weil ihm das Schwitzen peinlich ist, dass er einfach nicht sagen könne, er bräuchte dies oder das – ob sie bitte die Schmerzmittel höher einstellen könne und etwas zum Kühlen für ihn hätte.
„Gut, dass Sie mir das sagen, dann wissen wir BEscheid. Ihr Vater muss nur was sagen, dann machen wir das.“
„Mein Vater wird Ihnen das nicht sagen, er ruft mich an.“
„Ja, das müssen wir wissen, gut, dass Sie mit mir sprechen. Wenn ihr Vater mehr möchte, dann kann er das haben – er muss mir nur Bescheid geben.“
„Er wird das nicht tun, er kann das nicht, das liegt nicht in seiner Natur und das wird sich nun nicht mehr ändern. Er leidet, können Sie bitte etwas tun??“
„Ja, wenn er etwas sagt.“
„Ich unterschreibe Ihnen, was immer Sie wollen, können Sie bitte etwas tun?“
So ging das immer und immer weiter. Auch die Kühlung war ein Problem, denn er habe ein wenig Fieber, aber das sei im Griff, die Hitze sei nur subjektiv. Natürlich ist sie subjektiv, aber das ist doch egal, haben Sie etwas zum Kühlen? Dauerte auch eine halbe Stunde, bevor sie mir widerstrebend ein Kühlelement aushändigen ließ.
Der Kampf, meinen Vater von dort zur Palliativstation in unserem Krankenhaus überweisen zu lassen, war noch schlimmer. Aber ich merke nun, dass es sehr spät geworden ist, meine Tränen reichlich flossen und ich beim Gedanken an diese Ärztin in Wut gerate. Und dass ich mich dadurch wieder etwas besser fühle und mir das weitere Erleben für eine weiter Nacht aufspare, in der ich es nicht fassen kann, dass man weiter lacht und liebt und streit, sich freut und sich ärgert und dass dabei doch immer die kleine Stimme sagt: „Da war doch noch was … ?“. Es ist immer da, es ist immer unerträglich, tut weh und schmerzt. Aufschreiben hilft. Und den Mut zu fassen, von diesen Dingen zu berichten, hilft auch. Man steht es durch, denn so war es immer schon und wird auch immer so bleiben.