Hedwig 1882 – Aufbruch ins Leben


„Ein gutes Dienstmädchen bezeigt jederzeit Fleiß, Gehorsam und Bescheidenheit.“

Putzen, scheuern, fegen, waschen, nähen, flicken, kochen und servieren – darauf legt die feine Hausfrau erst in zweiter Linie wert, solange das Mädchen tut, was sie verlangt.

Die fünfzehnjährige Hedwig weiß, auf was sie sich einlässt, als sie in Bonn ihre erste Dienststelle antritt: Harte körperliche Arbeit zwölf bis sechzehn Stunden täglich und alle paar Wochen einen freien Nachmittag. Freiheit erlebt sie nur in ihren Träumen.

In diese Träume drängen sich John, ein junger Mann aus allerbester Familie, und Max, sein Freund seit Kindertagen. Über Standesgrenzen hinweg entwickelt sich eine enge Kameradschaft zwischen den Dreien. Bis die Liebe mitmischt …

Aufbruch

Dienstag, 14. September 1897

Dieser Dienstag entschied ihr Schicksal. Wobei Hedwig nicht an das Schicksal glaubte, sonst hätte sie gestern schon geahnt, was kommen würde. Doch alles war gewesen, wie es immer war: nichts als Plackerei und Streit, Streit und Plackerei. Wie jeden Tag hatte sie von morgens fünf bis nachts um elf geschuftet und dafür nichts als Mutters wehleidige Klagen und Vaters betrunkene Beleidigungen erhalten. Und das billige Mitleid der Nachbarn, denen im Grunde gleichgültig war, wie es ihr ging. Würde es sie kümmern, dann wäre schon mal einer von ihnen dazwischengegangen, wenn Vater den Gürtel schwang.

Stattdessen hatten sie Verständnis für ihn und mahnten Hedwig, sein Verhalten zu verzeihen. »Der hattet ja nicht leicht«, sagten sie, »mit dem lahmen Bein und deiner kranken Mutter. Ärger ihn nicht und wenn der mal widder seine zehn Minuten hat, gehste dem aus’m Weg.«

Diese zehn Minuten gab es vor einem halben Jahr noch nicht öfter als jeden Sonntagabend, wenn er in der Kneipe ein Bier zu viel gekippt hatte. Dann hatte Vater rumgebrüllt, mit dem Gürtel geknallt und Hedwig mal am Arm, mal am Hintern erwischt, um plötzlich innezuhalten und erschöpft in der Wohnküche auf der Bank einzuschlafen. Am nächsten Morgen war er verlegen und hatte sich manchmal sogar entschuldigt.

Doch vor fünf Wochen hatte er die Arbeit bei der Bahn verloren und jetzt hockte er nur noch rum und sagte ihr, was sie zu tun habe. Als ob sie das nicht selbst wüsste, besser als er. Der kümmerte sich schon ewig nicht mehr um den Gemüsegarten, ohne den sie niemals über die Runden gekommen wären. Die Kartoffeln und die Bohnen, alles, was auf den Tisch kam, hatten sie Hedwigs Mühe zu verdanken. Mutter half kaum, die deckte höchstens mal den Tisch oder wischte alle Wochen über den Boden. Ja, es ging ihr nicht gut, irgendwas fraß die von innen her auf, das tat Hedwig auch leid, deshalb packte sie ja mit an. Aber es blieb schon lange alles an ihr alleine hängen. Waschen, kochen, putzen, flicken, einkaufen, einfach alles.

Doch lobten die Eltern einmal, wie gut Hedwig den Haushalt am Laufen hielt? Das taten sie nie. Stattdessen beäugte Vater sie misstrauisch, wenn sie die Haare mal anders aufsteckte. Sie solle bloß nicht mit einem Balg nach Hause kommen, hatte er gesagt. Als ob sie so dumm wäre, sich mit einem von den Kerlen einzulassen, die nicht anders waren als er. Die dachten alle nur an sich, hielten sich für schlau und stark und meinten, sie könnten sich alles rausnehmen, wenn sie treuherzig guckten oder mal ein Beet für sie umgruben. Nein, das war nicht, was Hedwig vom Leben wollte.

Als sie heute am frühen Morgen aufstand, da wusste sie, dass sie fortmusste. Jetzt oder nie. Der Arm schmerzte noch, wo Vater sie gepackt hatte; eigentlich tat alles weh von oben bis unten. Vielleicht hätte sie es dennoch nicht gewagt, wenn Mutter nicht weinend auf der Bank gehockt hätte, vor ihr die Geldkassette und eine Flasche Kräuterschnaps, beide leer. Das bisschen Restgeld, das die Familie über die Wochen tragen sollte, bis Vater wieder in Lohn und Brot stünde – futsch war es. Jetzt war er vermutlich wieder mal nach Köln aufgebrochen, um sich aufzuführen wie Graf Rotz. Hoch und heilig hatte der versprochen, das nie wieder zu tun. Bestimmt kam er in zwei oder drei Tagen zurück, mit Blümchen, die er sich nicht leisten konnte, und tausend Schwüren auf den Lippen. Und Mutter würde ihm verzeihen und beide würden sie von Hedwig erwarten, den Schaden wieder gutzumachen mit noch mehr Arbeit.
Aber damit war jetzt Schluss. Endgültig.