Das Leben ist ein Roman. Oder nicht?
England, März 1815.
Harriet Brents Lieblingsroman ist Stolz und Vorurteil und seit Monaten schon träumt sie von ihrem Mr. Darcy. Eltern und Schwestern können es schon nicht mehr hören und bemühen sich vergeblich darum, Harriet auf andere Gedanken zu bringen.
Dann geschieht das Unfassbare: Soldaten beziehen Quartier im Ort, ein junger Mann mit schönem Vermögen mietet das Nachbaranwesen, ein Verwandter reist an, der Anspruch auf das Erbe der Brentschwestern erheben kann, und sogar ein Mr.Darby erscheint auf einem Ball.
Harriet ist fest davon überzeugt: Die Handlung ihres Lieblingsbuchs wiederholt sich – mit ihr selbst in der Rolle der Heldin!
Eine allgemein anerkannte Wahrheit
Es ist eine allgemein anerkannte Wahrheit, dass ein Junggeselle im Besitze eines schönen Vermögens nichts dringender benötigt als eine Frau. Zwar sind -«
»Oh, Harriet, bitte!«, rief Clarissa aus, die neben ihrer Schwester im Wohnzimmer saß und einen Riss in ihrem Redingote ausbesserte, »nicht noch einmal diesen Roman!«
»Aber du liebst ihn, das hast du gesagt!«
»Ja. Ich liebte ihn sehr, als ich ihn das erste Mal las. Und ich liebte ihn noch, als ich ihm das sechste, ja sogar das siebte Mal lauschte. Es ist eine reizende Geschichte, natürlich. Voller Witz und Ironie. Aber als ich dich bat, mich bei der Arbeit zu unterhalten, da hatte ich an das Klavier gedacht oder an Dorftratsch, doch sicher nicht an den hundertsten Vortrag von Stolz und Vorurteil. Sei versichert, wir alle kennen mittlerweile jede Zeile auswendig. Berichte lieber, was Charlotte gestern erzählt hat. Wie befindet sie sich, wie geht es Lady Milford? Hat sie sich von ihrer Erkältung gut erholt?«
Doch so leicht war Harriet von ihrem liebsten Thema nicht abzubringen. »Ja ja, es geht ihnen allen hervorragend. Sag, wünschst du dir nicht, du fändest einen Mr. Bingley? Wo du Jane Bennet doch so sehr ähnelst.«
Die Verwunderung der älteren Schwester war beträchtlich; verblüfft ließ sie ihre Näharbeit sinken. »Ich sei Miss Bennet ähnlich? In welcher Hinsicht denn bitte sehr?«
»Nun, das liegt auf der Hand: Du bist die älteste von uns Schwestern, du bist die Hübscheste von ganz Upper Rivington und dazu bist du von äußerst freundlicher Natur. Ganz wie Miss Bennet. Wohin du auch gehst, man ist dir zugetan.«
»Ich danke dir für deine gute Meinung. Du möchtest mir ein Kompliment machen, das verstehe ich, aber Jane? Kommt sie dir nie ein wenig zu duldsam vor? Und dann Mr. Bingley!«
»Was kannst du an ihm auszusetzen haben? Er sieht gut aus, hat einnehmende Manieren, ist dazu reich und liebenswürdig und von Herzen gutmütig.«
»Du wünschst mir nicht wirklich einen Mann, der sich so leicht von seiner Liebe zu mir abbringen lässt?«
»Aber Mr. Darcy ist sein bester Freund und er vertraute seinem Urteil, das dieser ja im besten Glauben gefällt hatte. Sollten wir unseren besten Freunden nicht vertrauen und ihrem Rat folgen?«
»Nicht mehr, als wir unserem eigenen Urteil vertrauen sollten. Wenn du dich also in einen Mr. Darcy verliebtest und ich gehe davon aus, dass du ihn für dich reserviert hast dann verließest du ihn, wenn ich es dir anriete?«
»Das ist eine vollkommen andere Situation, möchte ich meinen. Doch natürlich dächte ich über deinen Ratschlag nach und käme ich zum Schluss, du habest recht, so würde ich ihn befolgen, ja.«
»Und wenn ich dir kurz darauf riete, ihn nun doch zu nehmen, dann tätest du auch das? So wie Mr. Bingley sich hat umherschieben lassen? Ich meine, welcher Frau würde seine Liebe schmeicheln? Erst glaubt er, nicht ohne Jane leben zu können, dann verlässt er sie, weil sein Freund ihm ohne weiteres einreden kann, sie empfände nichts für ihn, und als es jenem Freund einfällt, er habe nichts mehr gegen diese Verbindung einzuwenden, da läuft er artig zurück zu ihr und bittet sie um ihre Hand. Und Jane willigt ohne Zögern ein. Du darfst mir gerne glauben, ich an ihrer Stelle hätte ihn geprüft, bevor ich ihn nähme. Man möchte doch nicht an einen Mann gebunden sein, der so wankelmütig ist.«
Das Gespräch nahm eine Richtung, die Harriet nicht gefiel; Mr. Bingley als schwachen Charakter dargestellt zu sehen, war nicht, was sie beabsichtigt hatte. Mehr als einmal hatte sie festgestellt, wie gerne sie mit ihm vorliebnähme, sollte sich kein Mr. Darcy in ihrem Leben einstellen. Und zu Clarissa würde ein Mann, der weniger ernst, weniger kühl und weniger bedacht war als sie, sehr gut passen. Das teilte Harriet der Schwester mit.
»Zu kühl, zu bedacht und zu ernst also bin ich? Und das ändert sich, wenn ich einen freundlichen Hohlkopf heirate? Ich sehe in einer solchen Verbindung nichts als Ärger und Unmut. Lieber wäre mir doch ein Mann, der meine Qualitäten zu schätzen weiß und ähnliche Eigenschaften besitzt wie ich.«
Die beiden älteren Schwestern verstanden sich gut, doch selten hatten sie über ihre Wünsche an die Zukunft miteinander gesprochen und noch seltener über ihre Vorstellungen von Männern. Clarissa schien stets über diesen Dingen zu stehen, ähnelte darin in ihrer ruhigen Zuversicht der Mutter.
Harriet war stets die fantasievollere gewesen, verspielter, lebhafter und bis vor einem halben Jahr kaum interessiert an allem, was mit Heirat und Haushalt zu tun hatte. Schnell begeisterte sie sich für Dinge und Menschen, hatte hintereinander weg ihre Liebe zu Stickarbeiten, Porträtmalerei und Klavierspiel entdeckt. Einzig dem Lesen blieb sie von frühester Kindheit an treu: Darin hatte sie die Aufregung gefunden, die in Upper Rivington keine Heimat hatte. Die elterliche Bibliothek war recht gut befüllt und stand den Töchtern ohne Einschränkung zur Verfügung; Sittenverderbliches wie die Romane des Marquis de Sade hatte nie den Weg nach Heartfield gefunden, wohingegen die deftigderben Abenteuer eines Tom Jones nach Meinung des Vaters dazu dienen mochten, die Töchter vor allzu viel Vertrauen in leichtfertige Herren zu schützen. Sowieso war ihm daran gelegen, sie nicht zu verwöhnten Porzellanpüppchen zu erziehen, sondern zu praktischen Frauenzimmern, die gut für sich und andere zu sorgen wussten, ohne dabei sich selbst zu vergessen.
In Dingen der Erziehung betrachteten sich Mr. und Mrs. Brent als traditionell und modern zugleich, was ihrer Nachkommenschaft zugutekam, denn ein jedes der Mädchen hatte sich seinen Anlagen entsprechend so gut entwickelt, wie es mit einer klugen Mutter und einem charmanten Vater nur möglich war. Die Eltern hatten Clarissas Zurückhaltung ebenso wenig bekämpft wie Harriets überbordende Fantasie.
Und nun also sprach Clarissa über ihren idealen Ehemann, weshalb Harriet das geliebte Buch zuklappte und näher heranrückte.
»Aber einen Mann zu heiraten, der ebenso ernst wie man selbst ist klingt das nicht nach Langeweile? Ich sehe euch schon Abend für Abend über den Haushaltsbüchern sitzen und rechnen. Und zur Entspannung lest ihr euch dann Predigten vor. Das möchtest du?«
Clarissa schüttelte den Kopf. »Wie kommst du nur auf solche Vorstellungen, Harriet? Wenn nicht alles Spiel und Tanz ist, dann muss es Arbeit und Ödnis sein? Ich wünsche mir einen Mann, der sich mit mir über Literatur ebenso unterhält wie über unsere Finanzen, der seine Sorgen mit mir teilt wie seine Freuden. Und der dasselbe von mir erhofft. Ich wünsche mir Harmonie und Einigkeit, Vertrautheit und wahre Freundschaft.«
»Wo bleibt denn die Liebe bei alldem? Es klingt, als wolltest du dich mit ihm in die Einsamkeit zurückziehen.«
»Das wäre mein Ideal: Eine Liebe, die so innig ist, dass wir es auch in einer kleinen Hütte im Wald miteinander aushielten.«
»Dann muss ich sagen, du bist romantischer, als ich es bin. Ich denke, eine Liebe überlebt die Jahre besser, wenn gelegentlich einige Zimmer zwischen dem Gemahl und der eigenen Person liegen.«
»Ah. Wenn ich auch erstaunt bin, das von dir zu hören, so stimme ich doch gerne zu. Da ich aber einen vernünftigen Mann zu heiraten wünsche, wird es vermutlich keiner, mit dem ich im Wald leben muss. Meine Mitgift und sein Einkommen sollten reichen, uns zumindest ein Cottage in einem Dorf zu ermöglichen. Ein wenig Platz für jeden von uns und Gesprächsstoff in Form einiger reizender Nachbarn sollten für ausreichend Ablenkung sorgen, um die gemeinsamen Jahre erträglich zu gestalten.«
»Das wiederum klingt sehr bedacht und sehr unromantisch. Ich befürchte, ich werde nicht schlau aus dir.«
»Vergleiche mich nicht mit Jane, sondern mit Lizzy, dann verstehst du mich besser.«
Nun lag das Erstaunen ganz auf Harriets Seite. Einige Male schon hatte sie ihre Familie mit der Familie Bennet verglichen und nie wäre sie auf die Idee gekommen, die Rolle Lizzys einer anderen als sich selbst zuzuschreiben. Und so sehr es ihr auch widerstrebte, so sehr musste sie anerkennen, dass Clarissas Anspruch auf diese Rolle so gering nicht war: Sie konnte im charmantesten Plauderton spitzzüngige Bonmots von den Lippen perlen lassen, betrachtete ihre Umgebung durchaus abgeklärt und glaubte dennoch an die Liebe.
Doch Harriet drängte diese Erkenntnis rasch beiseite: Clarissa war die Ältere, war schöner, ruhiger und zurückhaltender als sie selbst damit konnte sie niemals Lizzy sein. Und ein Mann wie Mr. Bingley wäre trotz all ihres Widerspruchs genau der Mann, der ihr Frohsinn und Leichtigkeit schenken würde. Es war eigentümlich, wie wenig Clarissa sich doch kannte!