Ich habe heute Nacht ganz deutlich gemerkt, wie sehr mich dieses letzte Jahr geschafft hat. Das wusste ich zwar, aber so richtig angekommen war es nicht. Ich versuche noch immer, kleinzureden, was alles war:
Das sechswöchige Sterben meiner Mutter, die unter ihrer Demenz als nahezu einzige Gefühle mir gebenüber Neid und Unmut waren.
Der grässliche Moment, als sie für Sekunden nur völlig klar war und das einzige Mal in diesen grauenvollen Jahren deutlich sprach und meinte: Das hätte ich auch nie gedacht, dass ich mal doof werde – gefolgt von ihrer Erkenntnis, dass sie im Sterben liegt.
Dieser üble Tag, als sie starb und ich da erst verstand, dass ich jetzt sofort dafür sorgen muss, dass sie von dort fortkommt. All die Telefonate, die Dokumente – völlig irreal all das.
Die Bitte, mir zu sagen, wann sie sie holen, damit ich dabei sein kann – um dann von der besten Betreuerin ever einen Anruf zu erhalten, die Bestatter wären bereits da und könnten keine Viertelstunde warten, bis ich rüberkomme. Mamas Wunsch nach anonymer Bestattung – und dann verstehen, dass mir wirklich niemand sagen wird, wohin sie gebracht worden ist. Das Gefühl, total versagt zu haben.
Die zweitausend Euro, die ich in diesen Wochen für Vintagebarbies ausgab, in dem durchaus bewussten Versuch, gute Kindheitserinnerungen zurückzuholen.
Die Unfähigkeit, sie betrauern zu können, dafür aber immerzu von meinem Vater träumen zu müssen, dem ich elf Jahre zuvor einen Platz zum Sterben hatte besorgen müssen. Was ich wohl ebenfalls nicht wirklich überwunden habe.
Auf den letzten Metern den Pandemie Tage später Covid einzufangen und danach ziemlich flott in Antriebslosigkeit und Sorge hineinzurutschen.
Das wochenlange Warten auf eine Diagnose, bei der Krebs im Raum stand. Eine schmerzhafte Biopsie. Die Existenzsorge durch den Job des Gatten, der wochenlang zuhause verbrachte, nur, damit sich alles in Wohlgefallen auflöste.
Meine zweite Erkrankung, vermutlich doch Covid, sechs Wochen lang komplett am Ende.
Die Renovierung meines Zimmer, die zwei Monate brauchte, die ich dann im vollgestellten Wohnzimmer verbrachte.
Der zu Schrott gefahrene Wagen.
Die Sorgen um den großen Sohn und seine Schulentscheidungen.
Zwei Todesfälle.
Der Einbruch in meinen Umsätzen, von denen nur noch ein Viertel da ist.
Die ständigen Selbstzweifel.
Die zweite Krebsvermutung und die Wartezeit.
Der Ärger mit Mamas Rechnungen und gleich zwei Betrugsversuche in dieser Hinsicht.
Und nun stehe ich da und habe mein Tier darunter leiden lassen, ohne die Kraft und auch den Mut zu finden, das zu ändern.
Wie ist es, mit Emma, ihrer Familie und Freunden aus den Goldenen Zwanzigern hineinzugehen in die Dreißiger? Die Dreißiger, die schnell grauer und kälter wurden, bis endlich die Nazis ihr Ziel erreicht hatten und aus der doch eher bunten und hoffnungsfrohen Weimarer Republik (mit all ihren vielen, vielen Fehlern und Schwächen) das Dritte Reich erschufen, das für viele Bürger zur tödlichen Gefahr wurde. Da ist mein lieber Simon Wertheim, Kriminalkommissar und Bönnscher Jung mit einer Vorliebe für Gerechtigkeit und Rosinenschnecken, der stets menschlich integer handelt, wenn auch nicht immer nach den Buchstaben des Gesetzes. Wieso muss ich ihn in diesen Horror stürzen? Nun, gerade seinetwegen habe ich schon früh in der Serie entschieden, nicht auf ewig in den Zwanzigern zu bleiben, obwohl doch einige Serien (vor allem im englischsprachigen Raum) sehr erfolgreich genau das tun. Ewig fließt der Champagner, die Kapelle hört nie auf, den Charleston zu spielen, immerzu sausen mutige Frauen mit Bob und Perlenkette im schicken Zweisitzer über die Landstraßen und ewig dürfen wir uns wohlfühlen.
Oder eben nicht. Denn wir wissen ja doch, was kommt, und irgendwie wird man beim Lesen immer im Hinterkopf die Sorge haben, was wohl mit dem lieben Wertheim geschehen wird. Oder ob Siegfried am Ende zur SS geht. Oder wie Sybil ihre Tanzschule erhalten will. Oder ob Emma der Ideologie anheimfällt und nichts anderes mehr tun wird, als Kinder zu bekommen. Vor allem möchte man doch aber wissen, ob sie die moralische Prüfung dieser Zeit bestehen und überleben. Anständig, ohne schuldig zu werden. Oder wie sie mit dieser Schuld umgehen werden.
Alle Fragen will und kann ich nicht beantworten, schon gar nicht in diesem Beitrag. Was ich verraten kann: Ich habe bis ins Jahr 1936 geplant; darüber hinaus ist es mir unmöglich, Emma weiterhin in ihrem geliebten Bonn ermitteln zu lassen. Weil es nicht mehr ihr geliebtes Bonn sein wird. Aus verschiedenen Gründen. Ob es darüber hinaus weitergeht, weiß ich nicht. Dauert ja auch noch.
Um was es mir jetzt geht, ist die Frage, wie ich überhaupt mit den Dreißigern umgehen kann und werde und wie es für dich als Leserin sein mag. Wie lustig und locker darf ein Roman überhaupt sein, wenn er in Zeiten der Wirtschaftskrise und dem schleichenden Ende der Demokratie spielt? Ist da nicht jedes Lachen fehl am Platz? Gerate ich am Ende in die Falle, eine unmenschliche Diktatur mit ihren tödlichen Gesetzen zum gewaltherrlichen Hintergrundrauschen zu machen? Es gibt solche Geschichten, in denen das Leid der Verfolgten zu nichts anderem dient, als den Hauptpersonen – die nicht verfolgt sind und bestenfalls darüber jammern, dass es so gar nicht hübsch ist, wenn die SA durch die Stadt marschiert – Gelegenheit zu bieten, sich als bessere Menschen zu beweisen. Was ihnen dann das Recht geben soll, über den verlorenen Krieg und den toten Neffen zu weinen, weil sie das ja alles gar nicht gewollt hätten.
Ganz ehrlich, natürlich habe ich Angst davor, meine Serie in diese Zeiten hinein weiterzuschreiben. Ich fürchte mich sehr davor, da etwas falsch zu machen. Einen blöden Eindruck zu erwecken. Dem Pathos zu erliegen. Meine Figuren unglaubwürdig handeln zu lassen. Aber was muss, das muss – und das muss.
Aber dann leben wir auch in schlechten Zeiten, wenn es uns auch noch recht gut geht. Irgendwie. Man kann ja vieles ausblenden, es schönreden, wegschieben, nicht glauben: Ob es der Krieg in der Ukraine ist, der doch eigentlich nichts mit uns zu tun hat. Oder die Frauen im Iran, die sich wegen eines kleinen Stückchen Stoff aufregen. Das Klima, das doch nichts weiter als nur Wetter ist. Der massive Rechtsruck überall in der Welt, der doch halt nur Ausdruck gelebter Demokratie ist. Die gleichzeitige Einschränkung von Frauenrechten, die … Nun ja, da fällt mir gar nichts mehr ein, womit ich das zudecken und wegschieben könnte. All diese Dinge sind sehr real und sehr gefährlich und spätere Generationen – so es sie noch geben wird – schauen vielleicht auf diese 2020er und sagen, da hat man es gleich gesehen, was kommt. Und vielleicht würden sie nicht glauben, wenn wir sagen, dass wir es nicht gewusst haben. Weil wir es nicht hätten ertragen können, es sicher zu wissen. Weil wir uns das von Tag zu Tag leben angewöhnt haben, ohne es zu merken. Weil wir jedes kleine schöne Ereignis als Zeichen dafür nehmen wollten, es wird alles wieder gut.
Und dann gucken wir auf die 1930er und denken: Ja, da hat man es schon sehen können, da war doch schon klar, was kommen würde. Deshalb schrecken wir auch schon zurück, wenn eine Geschichte 1930 spielt – das ist ja so nah dran, das ist ja fast schon Drittes Reich, das kann ja nur schrecklich werden. Aber nein. Es ist ein schlimmes Jahr gewesen, in dem wohl einige Weichen gestellt wurden. Aber es ist auch das Jahr, in dem ‚Die Drei von der Tankstelle‘ gedreht wurde – ein Film, in dem man sich über die Wirtschaftskrise und ihre Folgen für drei Lebemänner lustig machte. Bestimmt war auch dieser Film für viele ein Zeichen, dass alles gut werden würde.
Emma und James geht es in diesen Zeiten bis zur Wahl 1933 wie vielen: Sie krebsen herum, wenn es ihnen dank der reichen Verwandten und dem eigenen Haus auch besser geht als vielen anderen. Sie schuften und sparen und teilen den Haushalt mit den lieben Voellers. Aber sie suchen auch nach dem kleinen Schönen, das sie zum Lachen bringt und sie davon überzeugt, die Welt ist großartig. Irgendwann werden sie aufwachen müssen, irgendwann werden sie sich entscheiden müssen. Sie werden es hinauszögern, bis es nicht mehr geht. Wie Wertheim übrigens, der seine Heimat nicht verlassen will. Und das ist kein Spoilern, sondern ein Versprechen, wenn ich sage: Simon Wertheim wird 1950 in Bonn auf dem Markplatz stehen und an seine Zeit bei der Kriminalpolizei zurückdenken.
Als ich irgendwann im Frühjahr 2007 das erste Mal darüber nachdachte, einen Kriminalroman zu schreiben, der im Bonn der 1920er spielen sollte, hatte ich nicht die geringste Ahnung, dass
ich das wirklich nicht nur ein Mal, sondern nun schon zum fünfzehnten Mal tun würde,
meine Heldin zu Beginn sich als schüchtern erweisen sollte und
ich immer wieder feststellen muss, wie viele reale Ereignisse der Geschichte zu dem passen, was zum Zeitpunkt des Schreibens vor sich geht.
Ja und nun habe ich langsam das Gefühl, dass ich diese Serie vielleicht gar nie wirklich werde beenden können oder nicht so, wie ich es mir dachte. Jetzt, im aktuellen Projekt Emma Nr. 15, ist es Oktober 1930 und in wenigen Tagen werden NSDAP, KPD und DNVP im Parlament Misstrauensanträge gegen Reichskanzler Brüning. Der gehörte der Partei Zentrum an und hatte, nachdem die Nazis bei der Wahl im September enorm an Stimmen hinzugewonnen hatte, Anfang Oktober erste Gespräche mit der NSDAP geführt – zwecks Regierungsbeteiligung. Was die nicht daran hinderte, gegen Brüning zu intrigieren. Es ist lachhaft, vor allem aber tragisch, dass Brüning nur deshalb im Amt bleiben konnte, weil die SPD diesen Anträgen nicht zugestimmt hat – ausgerechnet den Linken musste er dafür danken, obwohl er ganz klar weiter nach rechts rücken wollte.
Vor einigen Jahren noch habe ich fest geglaubt, wir hätten es kapiert. Dass man keine Nazis wählt. Dass man nicht mit ihnen paktiert. Dass man nicht annehmen sollte, man könne sie unter Kontrolle haben, weil man mit ihnen koaliert. Eine Glaube, der mir in den letzten Jahren schon vergangen ist. Und nun haben wir Hessen erlebt und Bayern – es werden Antidemokraten demokratisch gewählt, die faschistisches Gedankengut erneut zur alltäglichen und gelebten Realität machen wollen. Wem das keine Angst macht, macht mir Angst. Das gebe ich gerne zu. Wie sollte ich auch keine Angst vor Menschen haben, die gegen ihre eigenen Interessen wählen, nur weil sie wollen, es soll anderen schlecht gehen? Oder welchen Grund sonst kann es geben?
ABER das Ganze hat doch auch etwas halbwegs Gutes: Wir können unsere Vorfahren vielleicht etwas besser verstehen. Wie viel Furcht viele von ihnen gehabt haben müssen, weil sie nicht in einem Land leben wollen, dass Menschen willkürlich in wertvoll und entbehrlich einteilen. Wie sehr manche versucht haben, zu warnen, und irgendwann resigniert aufgegeben haben. Wie diejenigen, die am stärksten bedroht waren, die Hoffnung nicht aufgeben wollten, es würde nicht so schlimm werden – weil man doch hier daheim war und Freunde hatte. Wie viele sich ins eigene Heim oder ins innere Ich zurückgezogen haben, um nur nicht aufzufallen. Wie sie versucht haben, noch schnell so viel Glück herauszuschinden, wie es nur ging, bevor das, was man fürchtete, wahrhaftig eintraf.
Von denen, die gar nicht genug jubeln konnten im Herbst 1930 und ungeduldig auf den Umsturz warteten, möchte ich nicht zu viel sprechen. Nicht hier und auch nicht in den Fräulein-Schumacher-Krimis. Ja, natürlich finden sie statt, ich werde sie zeigen und vielleicht versuchen, die Motivation des einen oder anderen zu begreifen und sie nicht zu eindimensionalen Böswichtern zu machen. Ebenso wenig will ich das Märchen spinnen, die meisten Deutschen hätten nichts gewusst oder wären entsetzt gewesen. Blind und taub war man schon mit Absicht, damals wie heute, aber Furcht ist leider ein stärkerer Trieb als Nächstenliebe.
Aber jetzt, heute, hier, schaue ich mich um und erkenne, es ist nicht mehr ausgeschlossen, dass wir erneut in eine sehr dunkle Zeit gehen. Eine, die wir dumm und willig herbeiführen. Und da liegt der Vorteil des Romans: Ich habe es in der Hand, meine Figuren zur Einsicht zu bringen, sie zu retten und sie anderen helfen zu lassen. Und ich kann nun viel zu gut nachvollziehen, wie sich Emma und James und mein geliebter Wertheim gefühlt haben, wenn sie die Zeitung aufschlugen oder den Nachrichten im Radio lauschten. Sehe ich zu pessimistisch in die Zukunft? Ich hoffe es sehr. Für mich selbst wäre es mir gar nicht so wichtig, aber für meine Söhne …
Sorry, dass ich wieder einmal nichts Positiv-Lustiges beizutragen habe. Doch zwischen Klimakatastrophen, Kriegen und den letzten Wahlen blieb mir heute nichts, als meine Gefühle aufzuschreiben. Für Emma hingegen lasse ich diese Sorgen noch in den Hintergrund treten – ich meine: James ist verhaftet worden. Was bedeuten ihr da irgendwelche Politiker im fernen Berlin?
Die Geschichte mit dem kleinen Handtuch hatte ich auf Insta schon erzählt, daher bitte nicht böse sein, wenn sie auch in diesem Beitrag vorkommt; es gehört einfach dazu.
Ob ich es schaffe, heute alles zu berichten, weiß ich noch nicht. Seht es mir nach, ich bin doch noch hübsch elend krank und habe Mühe beim Denken und Tippen.
Nun also. Vor unglaublich langer Zeit habe ich auf Norderney als sehr junge Frau eine Schönheitsfarm geleitet. Wir arbeiteten doch mit den Produkten einer Firma, deren Gründerin in den 1920ern (diese Dekade begleitet mich eben schon immer) mit der Anwendung von Strom auf Haut experimentierte und daraus eine Behandlungsmethode entwickelte, die mit kleinen Abwandlungen auch heute noch praktiziert wird.
Das ist aus zwei Gründen wichtig, zu wissen: Zum einen wurde diese Firma durch die Leiterin jener Schönheitsfarm, zu der ich in geheimer Mission geschickt wurde, nach Deutschland gebracht – was diese Dame so oft erzählt, dass es besagter Firma nicht mehr lieb sein konnte. Weshalb man dort sehr angetan war von der Idee, dass eine zweite Schönheitsfarm entstehen sollte, die mit ihnen arbeitete. Zum anderen ist diese Methode mit den Stromapplikationen erstaunlich wirksam, kann aber auch sehr schmerzhaft sein, wenn jemand daraus etwas macht, was so nicht vorgesehen ist. Natürlich bekamen wir Kundinnen, die bei dieser Dame schon gewesen waren, manche seit Jahren. Weil sie mal statt in den Süden in den Norden wollten. Und immer, absolut immer, wurden meine Angestellten und ich gefragt, ob wir das denn richtig machten – das wäre ja alles so angenehm und wir würden ja gar nicht nach Körperhälften abrechnen und überhaupt wäre es so völlig anders. Wir bekamen mit der Zeit ein Bild dieser anderen Farm vermittelt, das ausgesprochen spooky war.
Nun war es so, dass manche der Damen sich beschwerten, weil es ja im Süden anders war. Ok, da tat es weh und vieles war total unangenehm, aber so musste das. Von wegen: Wer schön sein will, muss leiden. Ein Leid, das selten im Verhältnis zur erzielten Schönheit stand, fand ich.
Mein Chef sagte also: Hubi Engelchen, wenn du eine Woche von deinem Urlaub opferst, dann zahle ich dir den Aufenthalt. Find mal raus, was die tun, damit du besser argumentieren kannst, bevor sich wieder eine bei mir beschwert und ich mich damit rumschlagen muss.
Anfang Dezember fuhr ich in diesen Ort im Süden und traf spät am Nachmittag im Hotel ein. Das Hotel sollte ich natürlich auch unter die Lupe nehmen; wenn schon, denn schon – obwohl Chef nicht davon ausging, dort etwas zu finden, was seinem Haus nutzen würde. Da hatte er recht. Ein Hotel, das sich zwischen Kur- und Konferenzgästen aufteilt, hat nur wenig mit einem Sporthotel an der Nordsee gemein.
Ich war kaum auf meinem Zimmer angelangt, als das Telefon klingelte und eine Dame mit sehr starkem und ebenso falschem fronßischem Akzent mitteilte, dass sie heute Abend nicht mit mir essen gehen könne, sie es aber arrangiert habe, dass ich mit der anderen heute eingetroffenen Gästin speisen würde. Auch das war etwas, was ich oft von meinen Besucherinnen gehört hatte: Madame kam nur dann zum Begrüßungsessen, wenn genug Frauen da waren. Für zwei Frauen lohnte sich die Mühe nicht.
Wie es sich nun ergab, war die andere Dame schon weit in ihren Siebzigern und zum ersten Mal auf einer Farm. Sie war unglaublich nervös und aufgeregt und irgendwie war es dann plötzlich meine Aufgabe, ihr diese Unruhe zu nehmen. Ich war also im Job sozusagen; das kannte ich ja von meinen Sonntagabendsbegrüßungsessen auch, wie fast schon ängstlich manche Kundin auf ihre Woche blickte.
Ok, das war eine ziemlich lange Vorrede, aber jetzt sind wir hoffentlich in der passenden Stimmung: kalter Dezember in einem gar nicht so hübschen, dafür riesigen Hotel und ich undercover – zwar unter meinem eigenen Namen, aber auf keinen Fall vom Fach.
Am nächsten Morgen um neun Uhr sollte ich dann meinen Beratungstermin bei Madame haben. Gemeinsam mit der alten Dame traf ich unten ein. Dort standen wir bestimmt eine Viertelstunde in einem langen Flur, in dem permanent junge Kosmetikerinnen auf und ab rasten, ohne uns auch nur anzusprechen. Kein guter Beginn, fand ich.
Irgendwann hatte ich genug und warf mich einer Angestellten in den Weg. Die schaute mich etwas verächtlich an, als ich meinte, wir hätten um neun den Termin mit Madame. »Madame kommt nie vor zehn Uhr.« Ah ja, sehr hilfreich. Sie hatte mir zwar den Termin höchstpersönlich genannt, aber schon jetzt wurde mir der Eindruck vermittelt, etwas falsch gemacht zu haben.
Immerhin durften wir uns in den Wartebereich begeben, der an geblümter Scheußlichkeit kaum zu überbieten war: Dort standen grellbunt geblümte Sofas, dazwischen goldgerahmte Glastischchen in einer solchen Menge, dass wir uns den Weg vorsichtig zum Polstermöbel erarbeiten mussten. Auch Tischlampen waren in großzügiger Menge vorhanden und natürlich Unmengen an Prospekten. Das war schon nicht wirklich gemütlich, auch deshalb nicht, weil die Karawane der vielen, vielen Angestellten pausenlos an uns vorüber eilte.
Noch viel ungemütlicher aber wurde es, als eine uns zurief, wir sollten bitte auf die Bezüge achten. Hä? Wie jetzt? Da erst entdeckte ich ein Preisschildchen, das von einer Lampe baumelte. Eine stolze Summe stand darauf, die diese Scheußlichkeit niemals wert sein konnte. Und solche Etiketten hingen an allen, absolut allen Gegenständen in diesem Raum. Sollten hier wirklich Möbel verkauft werden – so ganz en passant?
Wirklich kam Madame erst um halb elf und heute denke ich, das hatte Methode. Ich hatte ja die Kundinnen, die von ihr zu uns kamen und die schlimmsten Dinge erzählten, immer gefragt, ob sie sich beschwert hätten. Was keine jemals bejahte. Das wagte man hier nicht und ich denke, dass das daran lag, wie man behandelt wurde. Ich war in solchen Dingen nicht auf den Mund gefallen, aber dennoch saß ich verblüfft und baff und schweigend vor Madame, als sie sich wunderte, dass ich schon da wäre. »Neun Uhr? Moi? Das habe ich niemals gesagt.«
Da hätte ich ihr eigentlich das Terminkärtchen zeigen müssen, das ich an der Rezeption erhalten hatte: nicht nur mündlich im Telefonat, sondern auch schriftlich hatte sie mir diesen Termin gegeben. Aber ich war viel zu erstaunt von ihrer Chuzpe, um etwas zu sagen. Das steigerte sich noch beträchtlich, als ich erfuhr, wie sich die seltsame Aufteilung meiner Termine erklärte. Ich hatte eine Kur über drei Tage gebucht, in der ich allerdings fünf Körperbehandlungen erhalten sollte. Was natürlich Blödsinn ist: Zwei Mal pro Tag dieselbe Anwendung bringt nicht mehr.
Aber ups, wer hätte es gedacht, das war natürlich mein Fehler, denn wahrhaftig war eine Körperbehandlung auf die Vorder- oder Rückseite beschränkt. Ziemlich raffiniert, dann fünf anzusetzen – wirklich fragte Madame, welche Seite mir wichtiger wäre für die letzte Behandlung oder ob ich vielleicht eine sechste dazubuchen wolle.
Wollte ich nicht, allerdings wagte ich zu fragen, ob ich die Maniküre und die Pediküre eintauschen könne. Ich hielt es bei uns ja so, dass, wenn eine Kundin etwas nicht wollte oder brauchte, ich die dafür angesetzte Zeit nahm und ihr anbot, etwas anderes zu wählen. War hier nicht so. Wenn ich etwas nicht wolle, dann eben nicht. Ok, dann wollte ich auch keine sechste Körperbehandlung. Das würde ich gewiss bereuen, meinte Madame. Ich bereute auf alle Fälle jetzt schon, mich in der geblümten Spinnenfalle zu befinden.
Ich bekam meine Maniküre als Erstes, was absolut sinnlos war, denn meine Kolleginnen hatten mich in den Tagen zuvor auf Hochglanz gepflegt- falls ich auffliegen sollte, müssten wir uns nicht schämen. Öhm ja. Mussten wir auch nicht, denn die Kosmetikerin, die meine Hände verschönen sollte, fand nichts zu tun außer noch ein wenig herum zu polieren und nach fünf Minuten zu sagen, ich könne wieder im Wartezimmer Platz nehmen. Was mich wieder verblüffte. Wir hatten doch einiges an Zeit eingespart und diese Farm verfügte über Unmengen von Kabinen; da könnten wir doch gleich mit dem Peeling und der Behandlung anfangen?
Aber nein, ich war ja dumm, wie hatte ich annehmen können, ich bekäme eine Kosmetikerin für den gesamten Aufenthalt? Das würde nur für unnötige Nähe und Vertraulichkeit sorgen, erklärte mir die junge Frau, und das wolle Madame nicht. Ah ja. In einer solchen Woche geht es zwar immerzu um Nähe und Vertraulichkeit, aber Himmel noch, das wollen wir wirklich nicht, dass die Kundin sich wohlfühlt, weil sie eine Bezugsperson bekommt.
Ich hockte also wieder – ganz vorsichtig – auf dem geblümten Sofa und wartete. Und wurde müde und hungrig. Sehr müde. Sehr hungrig. Gefrühstückt hatte ich noch nicht, ich hatte ja gedacht, nur einen kurzen Neun-Uhr-Termin hinter mich bringen zu müssen, und dann essen zu dürfen. Tja
Dann endlich raste eine recht resolute Person auf mich zu, forderte mich auf, mitzukommen, und rannte schon wieder davon. Ich galoppierte ihr nach, verlor sie aber in dem langen Flur, weil sie in irgendeines des tausend Zimmer entflohen war. Ich stand also wieder etwas doof im Gang und hoffte auf Erlösung. Sie streckte den Kopf aus ihrer Kabine, seufzte und fragte, wo ich bliebe. Schuldbewusst trabte ich zu ihr. Sie wies auf die Liege und bat mich, mich auszuziehen, ich bekäme jetzt das Körperpeeling. Nun hatte ich in weiser Voraussicht an diesem Tag meine Brille aufgesetzt, weil die harten Linsen nicht gut mit Kosmetika zurechtkamen. Diese Brille legte ich ab, reichte sie der jungen Dame, die sie in Sicherheit brachte. Ich legte mich hin, wir fingen mit dem Rücken an. So weit, so gut, so macht man das: Man gibt der Kundin Zeit, sich zu entspannen, bevor sie einem die nackte Vorderseite präsentieren soll. Es war, ihr erinnert euch, Dezember. Ich hatte nichts an und wurde nun großzügig mit der Peelingcreme eingerieben, die Wasser brauchte, um verteilt zu werden. Wasser, nackt, Dezember. In einem geheizten Raum kein Problem. Bis die junge Dame mir erklärte, ihr sei zu warm, und das Fenster öffnete. Weit öffnete. Ich bibberte. Und bat um eine Decke. »Wie soll ich Sie dann peelen?« Indem sie nur das freilegte, was dran war, dachte ich. Wie man das eben so macht. Zumal man als behandelnde Kraft eben manchmal ins Schwitzen geriet, das war Teil des Berufs. Dass die Kundin friert, sollte niemals geschehen. Konnte ich das sagen? Eher nicht, weil undercover. Aber es wurde schlimmer, denn sie benutzte nicht die Hände, sondern den Frimator – eine sich drehende Bürste, die super angenehm sein kann. Wenn man sie leicht über die Haut laufen lässt. Was die Dame nicht tat. Offenbar war sie der Meinung, ich wäre ein Schuppentier und müsste daher gründlich abgeschliffen werden. Sie drückte und presste und ich jaulte irgendwann doch auf – am Knöchel schmerzte das schon sehr. Ihre Antwort: »Sie sind aber wirklich sehr empfindlich!« Sorry. Sie schrubbte also weiter und nahm auch an Gelenken und fettarmen Stellen keine Rücksicht. Nachher sah ich vier offene und blutende Stelle. Meine Schuld, nehme ich an. Im selben Raum befand sich die Badewanne, die während dieser Prozedur einlief. Ein Fichtennadelöl wurde darin verteilt und ich hatte – frierend, müde und hungrig, dazu gequält von meiner Zuchtmeisterin – nur den einen Wunsch, in diesem warmen Wasser zu versinken.
Erleichtert, meine Qual beendet zu wissen (und ein Körperpeeling sollte wohltuend sein), sprang ich von der Liege und wollte zur Wanne. Dennoch wickelte mich die Kosmetikerin in ein Handtuch, das knapp über den Po reichte und die Brust nur knapp bedeckte. Das fand ich seltsam, die zwei Schritte hätte ich auch nackt gehen können, nachdem ich ja nun schon die ganze Zeit frierend vor ihr gelegen hatte. Doch auf halbem Weg zur Wanne packte sie mich an den Schultern und drehte mich Richtung Ausgang. Sehr streng erklärte sie, so könne ich nicht ins Wasser steigen, ich würde ja den Ausfluss verstopfen mit meinem Peeling. Logisch, die Rohre werden lahmgelegt, wenn du in die Wanne steigst, nicht aber, wenn die Körnchen durch die Dusche abfließen. Nun nahm ich an, sie brächte mich in einen Nebenraum und bat daher auch nicht um meine Brille. Was ich sehr bereute, als ich realisierte, dass es raus aus dem geschützten Raum der Farm hinaus in den Hotelflur ging und ich in den Aufzug geschoben wurde, um in meinem Zimmer zu duschen. So schnell konnte ich gar nicht reagieren, wie sich die Türen hinter mir schlossen und der Aufzug losfuhr. Blind, frierend, tropfend und bemüht, das Handtuch nicht zu verlieren, landete ich drei Stockwerke höher in meiner Etage. Mein Zimmer lag geradeaus, keine zwanzig Meter entfernt, am Ende eines kleinen und dunklen Ganges. So zumindest hatte ich es vom gestrigen Abend in Erinnerung und auch am Morgen hatte dort alles im Dunkeln gelegen.
Was ich nicht bemerkt hatte: Auf der einen Seite waren keine Gästezimmer. Sondern ein Seminarraum. Ein verglaster Seminarraum. Ein verglaster Seminarraum, der nun voll besetzt war. Was ich nicht gleich sah, ich war ja blind. Hören aber konnte ich. Was ich hörte? Die Pfiffe von etwa zwanzig Männern, die aufsprangen und johlten, die Tür aufrissen und mich einluden, zu ihnen zu kommen.
Ich wollte zurück, drehte mich hastig um und sah, wie die Aufzugtüren sich vor mir schließen. Alles Drücken und Klopfen nutzte nix, das Ding war weg. Nicht weg war das Gelärme hinter mir. Erwachsene Männer im Anzug, die sich ganz gewichtig über irgendwas belehren ließen, hatten nicht Anstand genug, sich zurückzuhalten. Das hier war, ich möchte es noch einmal betonen, kein Junggesellenabschied (der ja auch anständig verlaufen könnte ), sondern ein seriöses Businessseminar. Mir blieb nichts weiter übrig, als an der Meute vorbeizuhasten, noch immer blind, frierend und tropfend und jetzt auch zutiefst verlegen. Ich duschte und zog mich an, dann raste ich wieder zum Aufzug und überhörte die erneuten Rufe, in denen die Aufforderung erklang, die blöden Hosen doch wieder auszuziehen.
Unten angekommen empfing mich die Kosmetikerin mit strengem Blick. Ich wäre zu lange fortgeblieben und wieso ich mich angezogen hätte, so würde ja noch mehr Zeit verschwendet. Ich war mittlerweile bereits so daran gewöhnt, geschulmeistert zu werden, dass mir nichts Besseres einfiel, als mich zu entschuldigen. Ich verhielt mich genau wie all die anderen Frauen, die mir von dieser Farm erzählt hatten. Da hatte ich nicht begreifen können, warum sie sich das gefallen ließen, da macht man doch den Mund auf, nicht wahr?
Man tut es nicht. Ich schlüpfte eiligst aus meinen Sachen und durfte nun in die Wanne. Ich war selig. Dachte ich. Kaum saß ich darin, da drehte die junge Dame die Blubbermaschine ein (mir fällt einfach der passende Begriff nicht ein wir hatten so etwas auch: ein Gitter, das durch einem Schlauch mit einer Luftzufuhr verbunden ist und so das Wasser ähnlich wie in einem Whirlpool aufbraust, was eine herrliche Massage für den Rücken ist. Oder sein kann )
Sie drehte am Knopf und verließ das Bad. Ich lehnte mich zurück und genoss das sanfte Kribbeln der Bläschen, die meinen Rücken hinaufliefen. Ja, ich dachte sogar, etwas entdeckt zu haben, was wir kopieren könnten, den dieser Blubbler wurde langsam stärker, anstatt gleichmäßig zu arbeiten. Das war angenehm. Zumindest so lange, bis die Wannenauflage, die über dem Gitter lag, das erste Mal durch den Luftdruck nach oben gegen meine Waden schlug. Huch. Das war seltsam. Ich stellte meinen Fuß auf die Auflage. Was nicht mehr ganz so bequem war. Es blubberte noch stärker, das Wasser spritzte hoch und höher. Fichtennadelschaum im Auge ist nicht toll. Jetzt schlug die Auflage gegen meinen Rücken. Ich setzte die Hand dagegen und hockte nun mehr oder weniger quer in der Wanne, darum bemüht, diese Auflage zu bändigen. Noch immer steigerte sich die Luftzufuhr. Es war wie im Wellenbad und das ist nicht übertrieben. Die Auflage hob ab, mit mir darauf. Ich wog damals nun wirklich nicht viel, aber das war nun doch nicht zu erwarten gewesen. Hin und her wogte das Wasser, es spritzte nicht mehr, es ging in Wellen über den Rand. So langsam wurde ich panisch, ich schluckte ja immer mehr von dem grünen Zeug. Ich klammerte mich an den Wannenrand, lehnte mich hinüber und versuchte, den Hebel zu erhaschen. Am liebsten wäre ich natürlich aus der Wanne gestiegen, doch ans Aufstehen war nicht zu denken, es hätte mich hochkant hinauskatapultiert. Ich lehnte also hinaus, doch noch bevor ich das Gerät erreichte, schaltete es sich aus. Wirklich erschöpft ließ ich mich zurücksinken.
Die Ruhe währte nicht lange, denn die Tür sprang auf und die dritte Kosmetikerin an diesem Tag stürmte herein und erklärte, sie würde mir jetzt eine Körpermassage verabreichen. Dann sah sie sich um, schüttelte den Kopf und fragte, was ich denn bitteschön hier angestellt hätte, es sähe ja schlimm aus. Und obwohl ich wütend wurde, musste ich mich zurückhalten, um nicht aus der Wanne zu klettern und sauber zu machen.
Ich hoffte nun also auf eine entspannende Massage. Wieder wurde das Fenster aufgerissen, wieder bat ich entweder um eine Decke oder darum, das Fenster zumindest auf kipp zu stellen. Beides geschah nicht und wieder hielt ich die Klappe. Wegen undercover einerseits und vollkommen zerschmettertem Selbstbewusstsein andererseits. Die Massage ließ sich gut an. Wäre sie meine Angestellte gewesen, hätte ich zwar noch ein wenig mit ihr geübt, die richtigen Punkte sich zu treffen und weniger über die Knochen zu hämmern, aber sie hatte weiche und warme Hände und massierte im gleichmäßigen Tempo. Sie bearbeitete meine Waden, meine Oberschenkel und ich war bereit, trotz Kälte einzuschlafen. Bis ich zusammenzuckte. Weil es bei einer Massage natürlich immer mal geschehen kann, dass man ausrutscht und jemanden intimer berührt, als man es beabsichtigt hat. Öl und Wärme sind manchmal schwierig zu kontrollieren. Wenn das aber wieder und wieder passiert, dann fängt man doch an, sich zu wundern. Das wiederholte sich so oft, dass ich, wäre sie ein männlicher Masseur gewesen, ihr eine Ohrfeige verpasst hätte. Ich lag also ziemlich verkrampft da und tat so, als bemerke ich nichts. Entspannung war also weiterhin Fehlanzeige.
Nach einer halben Stunde dann war ich entlassen. Ich schnappte meine Brille, zog mich eilig an und wollte nun nichts weiter, als mir irgendwo etwas zu essen besorgen und diesen Ort hinter mir lassen. Leider lief ich Madame in die Arme, die mich empört betrachtete und mit dem Finger wackelte, als wäre ich ein unartiges Schulkind, dass die Direktorin außerhalb des Unterrichts erwischte. Ihr Charme war so falsch wie ihr französischer Akzent, als sie mir erklärte, sie habe das Polieren meiner Fingernägel auf die Rechnung gesetzt. Mehr als ein eloquentes Hä fiel mir zunächst nicht ein. Ich stand da und hörte zu, wie sie davon sprach, dass das Polieren eine Zusatzleistung sah, da das Pulver sehr teuer wäre. Dann wollte ich etwas sagen. Sehr viel sogar. Zusatzkosten werden schließlich vorher abgeklärt und dass das Pülverchen viel koste, war eine unverschämte Lüge. Aber ich blieb ruhig und meinte nur, dass das ja das Einzige gewesen wäre, was an meinen Nägeln zu tun gewesen wäre; die behandelnde Kraft habe weder gefeilt noch massiert, sondern nur poliert, und das dürfe man doch wohl – »Ah, Mademoiselle Über, das sehen Sie ganz falsch.« Sprach es und ließ mich stehen. Ich war auf ganzer Linie geschlagen.
So, das ist jetzt schon sehr, sehr lang geworden. Wie es weiterging in diesem gemütlichen Etablissement, erzähle ich demnächst. Man darf sich freuen auf Schläge, Stromstöße, Lehm und Flucht.
Wie offen und ehrlich darf ich eigentlich aus meinem Autorinnenleben berichten, ohne es mir noch schwerer zu machen, als es gelegentlich ist? Ich habe keine Ahnung, deshalb tue ich, was ich immer tue: Ich schreibe einfach drauf los und schaue, wohin es mich führt und wo es endet.
Um was geht es mir heute? Um Luise, mein aktuelles Projekt. Ein Projekt, das ich sehr liebe und mit dem ich sehr gut vorankommen; das Schreiben bereitet mir unglaublich viel Freude, ich mag die Figuren und ich mag es auch, mich stärker als sonst an historischen Ereignissen entlangzuhangeln. Das 18. Jahrhundert – ich hatte es schon erwähnt – hat mich schon als Jugendliche enorm fasziniert und mich nun darin zu bewegen, in seinen letzten Jahren, fühlt sich gut an. Obwohl ich mich nicht an tragischen und dramatischen Fakten werde vorbeimogeln können. Versuche mal, per Google irgendetwas aus dem Jahr 1789 herauszufinden, was nicht mit der Französischen Revolution zu tun hat. Da heißt es scrollen, scrollen, scrollen, bis man den gesuchten Mondkalender oder eine Wetteraufzeichnung oder eine Modezeitschrift gefunden hat zwischen all den Einträgen zu den Generalständen, dem Sturm auf die Bastille oder dem Marsch nach Versailles. Und es ist ja auch diese Revolution, die mich als Jugendliche dazu gebracht hat, mich mit dieser Zeit zu befassen und wissen zu wollen, was mit dem ancien régime auf sich hatte. Ich las mich rückwärts durch, bis ich im Jahrhundert davor beim Sonnenkönig angelangt war, und arbeitete mich noch einige Male vor und zurück, wurde dabei zum Pompadour-Fangirl und begeisterter Leserin französischer Romane dieser Zeit. Und nun schreibe ich darüber. Keine Biografie, sondern eine Liebesgeschichte oder vielmehr die Geschichte eines Paares, das aus scheinbar guten Tagen heraus in einer Welt aufwacht, die beängstigend und fremd ist. Und zugleich weit weg scheint, denn die Geschichte spielt in Bonn. Die Auswirkungen der Revolution im Nachbarland sind auch in der Stadt am Rhein; danach wird das Leben ein anderes sein.
Es fällt mir schwer – ähnlich wie bei Emma Schumacher und ihrer Zeit – nicht Ähnlichkeiten und Vergleich zu unserer Gegenwart zu ziehen. Wir schwanken ja auch zwischen dem (trügerischen) Eindruck, die Ukraine, der Iran, der Sudan wären weit fort und hätten nichts mit uns zu tun, und einer unterschwellig immer vorhandenen Angst vor dem, was kommen mag. Ja, und jetzt frage ich mich, ob es eben diese Ähnlichkeit ist oder der Horror der Französischen Revolution und des terreurs oder schlicht eine Modefrage, die dafür sorgen, dass nur ich und eine winzig, winzig kleine Gruppe meiner Leserinnen Interesse an meinem aktuellen und sehr, sehr geliebten Projekt haben. Die Vorbestellungszahlen sagen klar: Wollen wir nicht. Lass es bleiben. Das ist nix. Iiih. Bäh. Gähn. Brr.
Und da bin ich nach langer Vorrede an dem, was mich seit Tagen beschäftigt. Seit Wochen eigentlich. Oder, wenn wir es ganz genau nehmen wollen, dann beschäftigt es mich seitdem ich gemerkt habe, dass das Schreiben so weit überhand genommen hat, dass es zum Beruf wurde. Ein Beruf, den man sich bei klarem Verstand und dem Wunsch nach finanzieller Sicherheit gewiss nicht auswählt (ich denke, das durchschnittliche Gehalt einer Autorin liegt nach wie vor bei 50 /Monat, wobei das wenig aussagekräftig ist). Ganz klar ist aber doch, so zeitfressend dieser Beruf ist, davon leben können nur wenige und die, die es können, richten ihr Schreiben häufig und notgedrungen nachdem aus, was gerade gesucht wird. Was gesucht wird, entscheiden übrigens nicht unbedingt die Leserinnen, sondern die Buchhandlungen, die anhand ihrer Verkäufe die gewagte Prognose stellen, was die Leserin möchte. Deshalb kommt es immer wieder zu den Häufungen eines Genres, bis der Ruf erschallt, man könne den Kram nun wirklich nicht mehr sehen. Die Verlage und vorher die Agenturen versuchen nun ebenfalls, diesen Trend vorherzusehen; da bleibt für Experimente nicht allzu viel Platz. Das ist für mich als Indieautorin etwas anders, doch das heißt nicht, dass es nicht auch für mich Trends gibt. Und dieser Trend ist gegen Luise, so will es scheinen.
Was mich, das gestehe ich, sehr traurig macht. Und nervös. Denn ich habe schon einiges investiert in diese Trilogie, die ursprünglich nur eine zweibändige Geschichte hätte werden sollen – jetzt gerade bin ich mir nicht einmal sicher, wie ich mit drei Büchern auskommen soll, weil diese Zeit mit ihren besonderen Menschen Platz braucht. Wäre ich völlig frei in meiner Entscheidung, müsste ich also nicht dazu beitragen, dass dieser Haushalt mit seinen vier Tieren, zwei Söhnen und dem Gatten und mir überlebt, dann würde ich mir dieses Jahr nehmen und ganz entspannt nur über Luise schreiben. Aber das ist nicht nur eine finanzielle Frage. Das ist sie sogar am wenigsten. Es ist auch eine Frage der … Tja, ich weiß nicht, wie ich es nennen solle. Liebe liegt mir auf der Zunge, was doch sehr pathetisch klingt. Doch vielleicht verstehen mich da die Kolleginnen: Man ist meist doch recht allein mit dieser Arbeit, man taucht ab in eine Welt, findet sich in ihr zurecht, ringt manches Mal um das passende Wort, den weiteren Fortgang, kämpft sogar mal mit den Tränen – man ist sich selbst Motivatorin und Kritikerin und weiß dabei nie genau, ob man auf dem richtigen Weg ist. Werden die Lesefreundinnen die Geschichte mögen, werden sie die Hauptfigur lieben, werden sie sich freuen, dass ich zuletzt die Nächte durchgemacht habe, um alles zum Ende zu bringen – weiß irgendwer zu schätzen, was ich hier tue? Erhalte ich ein klein wenig von der Anerkennung und der freundschaftlichen Liebe, die meinem Tun einen Sinn gibt?
Oder ist es das Gegenteil: Sagt man mir, das ist Mist? Und da rede ich jetzt nicht von denen, die sich beschweren, weil die Figur so oder so ist oder irgendwer irgendwann irgendwas getan hat, was diese Leserin so nicht wollte. Da bin ich längst an dem Punkt, an dem ich mir denke: Wenn es nicht gefällt, dann hilft nur Selberschreiben, hopp hopp. Als Dienstleisterin war ich mein halben Leben lang unterwegs, das bin ich nicht mehr. Ich will unterhalten und Freude bringen, mag Kontakt pflegen mit jenen, die mich gerne lesen, ich höre auch gerne auf das, was gewünscht ist. Aber maßgeschneidert für jede schreiben, kann ich nicht und will ich nicht. So wenig, wie ich nur für mich schreibe und niemanden sonst brauche. Nein, ich möchte meine Lesefreundinnen glücklich machen und mir bei manchen Szenen weiterhin vorstellen dürfen, wie A nun lacht und B sich wiedererkennt und C sich denkt, das wäre mal wieder typisch. Ich bin froh darum, einige Leserinnen so gut schon zu kennen, dass sie wahrhaftig neben mir sitzen, wenn ich arbeite.
Doch nun stehe ich da mit meiner sehr geliebten, zauberhaften Luise, die übrigens eine Ur-Ur-Urahnin dessen Mannes sein wird, in den sich meine Lily DuPlessis, auch sie eine Schauspielerin, einhundertdreißig Jahre später verliebt. Diese kleinen Vernetzungen zwischen all meinen Serien liebe ich ja sehr, das nur am Rande. Ja, hier stehe ich und muss ihr sagen: Dich will niemand. Du bist falsch, uninteressant oder furchteinflößend. Vielleicht trägst du das falsche Kleid, vielleicht beschreibe ich dich falsch, vielleicht bist es wirklich du, die nicht stimmt. Das ist kein gutes Gefühl. Es ist sogar ein sehr mieses Gefühl, das immer weiter unter meiner Haut entlang sich ausbreitet und droht, mir die Lust an dieser Geschichte zu nehmen. Noch halte ich dagegen, wirklich macht Luise mir viel, viel, viel zu viel Freude. Sie kabbelt sich mit Philippe, wie sich all meine Heldinnen mit den Männern ihres Lebens kabbeln. Sie hat wunderbare Freundinnen, treue Freunde, eine großartige Familie. Ihr Leben ist sonnig. Sie wird klar kommen. Ich aber rappele mich jeden Tag auf, atme tief durch und sage mir, dass es auch reicht, wenn nur zehn Leserinnen sich freuen, mich Luise durch eine der aufregendsten und spannendsten Zeit Europas zu gehen. Und weil ich das Gefühl, eine Loserin zu sein, so halb öffentlich geteilt habe, geht es mir auch gleich besser. Nichts fühlt sich für mich nämlich schlimmer an als die Sorge, ich könnte durch Verschweigen einer subjektiven Wahrheit den Eindruck erwecken, es wäre mein Autorinnenleben happy go lucky. Das ist es nicht. Es ist harte Arbeit und es ist unglaubliches Glück und ganz viel Bangen, Zittern und Heulen. Echtes Leben halt.
Es fing vor gut zwei Jahren an: Recht bald im ersten Lockdown fand ich es enorm schwierig, meiner Mutter am Telefon klarzumachen, dass sie bitte schön daheimbleiben und mir diktieren solle, was ihr Schwiegersohn für sie einkaufen sollte.
Ich merkte natürlich, etwas was anders, und mit allem, was ich heute über diese Krankheit weiß, wäre mir gleich aufgefallen, was so anders war. So aber ließ ich mich gerne beruhigen, wenn andere meinten, sie hätten nichts an ihr bemerkt. Und mit 83 darf man ja auch tüddelich werden, nicht wahr? Dass meine Mutter mir gegenüber schnell aggressiv wurde, war ja leider auch nicht wirklich etwas Neues; an mir hatte sie immer schon vieles auszusetzen gehabt. Wenn sie also nun nicht in der Lage war, mir ihre Einkaufswünsche zu diktieren, weil ich ihr nicht rechtzeitig Bescheid gegeben habe oder zu ungeduldig sei, dann klang das nicht so viel anders als sonst, wenn sie mich beschuldigte, ich würde mich zu selten melden.
Wir wurschelten uns also einige Wochen durch diesen Lockdown. Meine Mutter ging fast täglich einkaufen und wurde dafür von mir ausgeschimpft. Wenn sie Einkaufswünsche mitteilte, dann waren es absurde Dinge wie zwei Kilo Trauben oder das immer Gleiche wie Brot und Käse. Nie war es genug für eine Woche, nie etwas Frisches oder etwas Besonderes wie die Lakritze, die sie am liebsten mochte. Auch der Austausch von Geld und Einkäufen war kaum zu bewerkstelligen, sie verstand es einfach nicht mehr.
Mindestens einmal in der Woche rief sie an und war meist erstaunt, dass sie mich am Ohr hatte. Immer behauptete sie, ich hätte sie angerufen und würde stören. Oder aber sie klagte, die Fernbedienung des Fernsehers sei verstellt. Weshalb wir dann doch immer wieder zu ihr fuhren, um das zu reparieren, was sie in ihrer Verwirrung verstellt hatte. Ich war nun schon überzeugt, dass mit ihr etwas nicht stimmt, und verlangte, sie müsse zum Arzt. Sie kam mit den blödsinnigsten Ausreden, warum sie nicht drangekommen wäre, obwohl sie doch dagewesen wäre. Oder sie erklärte, alles wäre gut.
An einem Sonntag im Sommer kamen mein Mann und ich überraschend vorbei; wir wollten mit den Hunden in den Wald und schnell einmal nach ihr schauen. Sie wirkte durcheinander, strengte sich aber wohl an, dass wir nichts merkten. Ihre Haare klebten am Kopf. Sie lachte. Sie habe aus Versehen die Körpermilch mit dem Shampoo verwechselt. Nun ja …
Noch immer war ich die Einzige, die glaubte, es wäre ernsthaft etwas nicht in Ordnung, wollte mich aber nur zu gerne davon abbringen lassen. Dass andere nichts merkten, lag eben auch daran, dass meiner Mutter deren Meinung über sie wichtiger war als das, was ich von ihr dachte.
Dann im August, eine gute Woche vor dem Todestag meines Vaters, rief mein Bruder an, der meine Mutter am Telefon gehabt hatte. Sie habe sich kaum artikulieren können und dauernd von einem Kind und einem Mann gesprochen, von fehlenden Schlüsseln und einer Party. Ich solle bitte hinfahren, er befürchtete einen Schlaganfall. Als ich ankam, stand meine Mutter in der offenen Wohnungstür. Es ist ganz eigenartig, wenn man vor jemandem steht und sehen kann, dieser Mensch ist nicht mehr derselbe. Wirklich, man sieht es. Sie musste nichts sagen, es war so eindeutig, dass sie nicht wusste, weshalb sie dort stand, und dass sie etwas sah, was mir verborgen blieb. Immerhin erkannte sie mich. Sie nahm mich an der Hand, zerrte mich ins Schlafzimmer und ich glaube, mich erschreckte am meisten das Bett. Bislang war die Seite meines Vaters immer sorgfältig zugedeckt und glattgestrichen, einer seiner Teddys saß auf dem Kissen. Jetzt war es zerwühlt auf eine Weise … schwer zu beschreiben. Und da stand meine Mutter neben mir, ganz aufgeregt, und zeigte mit dem Finger auf die zerknüllte Decke und sprach von dem kleinen Mädchen, das dort säße. Es war unheimlich.
Ich rief den Notarzt, der sofort nach Demenz fragte. Und auch gleich erklärte, ich müsse mir keine Sorgen machen, er würde dennoch einen Wagen schicken; es müsse mir nur klar sein, dass es sehr wahrscheinlich wäre, wenn meine Mutter in der LVR bleiben müsste – möglicherweise in einer geschlossenen Abteilung. Dorthin kam sie dann auch nach drei Tagen, die sie auf einer Normalstation verbringen musste. Es war die Hölle, denn sie wollte weg. Sie hatte keine Ahnung mehr, wer sie war oder wohin sie wollte, es war nichts als ihr Instinkt, der sie flüchten lassen wollte. Festhalten durfte man sie nicht und ich hatte Nacht für Nacht Angst, ich würde einen Anruf erhalten, man habe meine nackte Mutter irgendwo in der Stadt aufgegriffen. Das passierte zum Glück nicht, bis das Gericht die Erlaubnis erteilte, sie in die geschlossene Abteilung zu bringen.
Meine Mutter war kaum noch in der Lage, Wörter zu artikulieren, sie hatte Halluzinationen, vermischte Vergangenheit, Traum und Traumata mit Trugbildern und es war schlicht die Hölle, mit ihr zu telefonieren, wenn sie zugleich mit dem Papst sprach und sich im Jahr 1800 wähnte. Einmal in der Woche durfte ich hin und ganz ehrlich, das macht war mit einem, wenn man mit dieser nun so fremden Frau in einem Zimmerchen hockt, in dem es nach Urin und Exkrementen riecht. Weil nämlich Inkontinenz und Demenz so gut befreundet sind.
Es folgten grauenvolle, belastende Wochen, in denen ich mehr oder weniger dazu überredet wurde, die gesetzliche Betreuung für meine Mutter zu übernehmen. Was gerade in der ersten Zeit sehr, sehr, sehr viel Arbeit ist. Die nicht leichter wurde dadurch, dass meine Mutter nun in die Phase kam, in der Geld das wichtigste Thema ist. Sehr, sehr, sehr wichtig. Alle Welt will sie über den Tisch ziehen, alle klauen, keinem kann sie trauen. Immer fragte sie mich nach Geld und Schmuck, wurde böse oder weinte, hatte abwechselnd Sorge, sie könne nichts bezahlen und wollte daher ihr Abendessen nicht zu ihr nehmen, oder aber sie erzählte allen, wie ich ihr alles abgenommen hätte.
Dann folgte der Umzug in die Demenz-WG. War meine Mutter in der Klinik dank der Medikamente gut händelbar, so wurde sie nun aggressiv. Sehr aggressiv. Und noch fremder. Nachts fand sie nicht in den Schlaf, obwohl sie bald schon Mittel bekam, die ein Nilpferd lahmgelegt hätten. Sie zog sich immerzu aus, schmierte ihre Ausscheidungen an Wände, Böden, ins Gesicht. Nackt rannte sie ans offene Fenster und schrie nach der Polizei, rief Mord und Hilfe, sie schlug die Pflegerinnen und Betreuerinnen, sie war böse und garstig zu den anderen Bewohnerinnen und mit mir erst rechts. Es sah nicht so aus, als würde sie bleiben können; tagelang habe ich völlig verzweifelt versucht, irgendwo einen Heimplatz aufzutun. In einem Umkreis von hunderten von Kilometern. Sinnlos.
Mein Glück war die wunderbare Ärztin der LVR, die die seelische Betreuung meiner Mutter übernommen hatte – und die Mutter eines Freundes meines jüngsten Sohnes ist. Sie hat mir so sehr wie meiner Mutter geholfen und mit der passenden Medikamenteneinstellung konnte meine Mutter bleiben, wo sie war. Niemals war ich so erleichtert. Nach einer Woche ohne Schlaf kam ich endlich zur Ruhe.
Meine Mutter auch. Sehr sogar. Nun schlief sie immer wieder ein, sah grau und bleich und mehr tot als lebendig aus, wenn sie in ihrem Bett lag. Dass sie mir zu verstehen gab, sie wünschte, so wäre es auch … damit konnte ich nicht umgehen. Seitdem geht es weiter bergab. Mal körperlich, mal geistig. Bin ich dort, so habe ich selten das Gefühl, ihr damit etwas Gutes zu tun; sie braucht oft Minuten, bis sie mich wahrnimm, und noch einmal so lange, um mich zu erkennen. Oder zumindest zu glauben, ich wäre ihre Tochter. Was es für mich besonders schwermachte im ersten Jahr, war ihr Verhalten. Bei der Demenz, so heißt es, bleiben die Gefühle, die man für andere hatte, am längsten erhalten. Meine Mutter war mit gegenüber böse, neidisch und eifersüchtig in dieser Zeit. Etwas, was ich als kleines Mädchen schon empfunden, mir aber nie, nie, nie eingestanden hatte, selbst dann nicht, wenn andere meinten, so wäre es immer schon gewesen. Und dann sitzt du neben der Frau, um die du dich zu kümmern hast, und versuchst, dich damit zu trösten, dass sie doch nicht mehr weiß, was sie sagt. Ich hielt mich an den Momenten fest, in denen sie lieb und zutraulich war und mich schön und fein nannte. Das kam vor.
Ja, und nun stürzt sie sehr oft, war innerhalb einer Woche zwei Mal im Krankenhaus und ist kaum noch mobil. Wir werden sie dieses Jahr an Weihnachten nicht zu uns holen können; wir bekämen sie die Treppe nicht mehr hinauf und sehr wahrscheinlich würde sie panisch werden. Es ist halt nicht so, als hätte sie einfach nur vergessen, wer sie ist, wer wir sind oder wo sie ist: Sie befindet sich in jeder Sekunde unter Fremden in einer fremden Welt. Das muss die Hölle sein und ich kann sie ihr nicht ersparen. Das ist für mich Demenz.
Vor etwas mehr als zehn Jahren, als ich noch unter Michou loves Vintage übers Nähen, Stricken, Schnittzeichnen und den Alltag bloggte, habe ich auch über meinen Vater geschrieben. Genauer gesagt habe ich darüber gesprochen, wie es ihm und wie es mir ging, denn mein Vater lag im Krankenhaus und es war zu Beginn unklar, was er hatte. Nicht lange allerdings, denn es war Krebs und es blieben uns sechs Wochen, um das zu begreifen. Es ging nicht gut aus und war auch nicht eine Minute lang erträglich. Ich stolperte der Erkenntnis und meinen Gefühlen hinterher und weil ich zu diesem Zeitpunkt schon fast alles schreibend mit mir ausmachte (wenn ich mich ärgerte oder amüsierte, fand das als Anekdote Eingang in meinem Blog), fing ich nach einigem Zögern an, auch über Papa zu schreiben.
Was ich schrieb, mal länger, mal kürzer, manches, was ich später löschte, vieles, was ich stehen ließ, schrieb ich immer ein oder zwei Tage nach dem betreffenden Ereignis – so lange brauchte es immer, um wirklich und wahrhaftig zu verstehen, was gerade vor sich ging und welche Bedeutung es hatte.
Dann, nachdem mein Vater gestorben war, versuchte ich, das alles zu erzählen; ich hatte mittlerweile erlebt, wie wichtig dieses öffentliche Begleitung dieses Abschieds nicht nur für mich, sondern auch für viele Leserinnen war. Weil sie dasselbe erlebten oder erlebt hatten und es niemanden gab, der mit ihnen darüber hätte reden wollen (das erleben viel zu viele in dieser Situaton; man fällt den Leuten so lästig, nicht wahr?). Oder weil sie sich der eigenen Trauer schlechter stellen konnten und es half, darüber zu lesen. Weil sie das Gefühl hatten, sie müssten längst mit dem Trauern durchsein. Die Gründe waren vielfältig und doch ähnlich und sie führten dazu, dass ich sehr viele Kommentare und sehr viele Mails erhielt. Die Lebens- und Todesgeschichten anderer zu lesen und darauf zu antworten – das war auch für mich sehr hilfreich, vor allem in den letzten Tagen meines Vaters, als ich mich darauf einstellen musste, was unvermeidlich war. Wie gesagt, ich hatte all das einmal vollständig aufschreiben wollen, das Gute wie das Schlechte, aber irgendwann brach ich ab; warum kann ich nicht einmal sagen.
Das war nun eine lange Einführung, die eigentlich nur zeigen soll, mir selbst auch zeigen soll: Es ist ok, über die Eltern zu sprechen. Weil all die Sorge, der Frust, die Trauer – was auch immer es ist, es muss irgendwohin und es hat seinen Platz in dieser Gesellschaft. Sollte es zumindest haben. Und so geht es nun um die Demenz meiner Mutter, die zwar lebt, aber nicht mehr da ist, sieht man von gelegentlichen Sekunden ab, in denen sie weiß, wer ich bin oder wer mein Mann ist. Sekunden, nicht Minuten. Gelegentlich und nicht oft. Ihrer Würde tut es keinen Abbruch, wenn ich erzähle – ob heute oder ein anderes Mal, wie es um sie steht, was sie tut und sagt. Ich kann sie nicht mehr fragen, ob es ihr recht ist; aber meinem Vater war es damals sehr recht und meiner Mutter ebenso; ich habe keinen Anlass zu glauben, es könnte nun anders sein.
Aber man sieht, ich rede dennoch drumherum, vielleicht doch in der Hoffnung, dass sowieso niemand bis hierher liest. Weshalb auch? Nun vielleicht, weil es anderen – also dir – genauso geht. Oder gehen könnte. Weil du jemanden kennst, der unter Demenz leidet. Weil du pflegebedürftige Eltern hast. Weil dein Verhältnis zu deiner Mutter ähnlich schwierig ist wie das zwischen meiner Mutter un mir. Wieder gibt es tausend Gründe, vielleicht bist du einfach nur neugierig und das ist gut so.
Demenz also. Frag mich nicht, welche Form meine Mutter hat – es war von Alzheimer die Rede, von einem Schlaganfall, der das Gehirng geschädigt hat, und von anderen Formen, die ich kaum kenne. Man weiß es nicht genau und es ist auch gleichgültig. Was diese Demenz nicht ist, ist viel wichtiger.
Sie ist nämlich nicht einfach nur das große Vergessen, als das sie immer wieder dargestellt wird in Filmen und Büchern. Die kennen wir alle, nicht wahr? Da werden – oft ganz niedlich anzusehende – ältere Herrschaften gezeigt, die kindlich-liebenswürdig profunde Weisheiten von sich geben, weil ihnen ja die große, böse Welt gleichgültig geworden ist und somit nicht länger Ansehen und Geld zählen, sondern Liebe und Wärme. Da werden dann Jugenderinnerungen gelebt und Puppen gestreichelt, da wird der Sohn auf einmal als sein Vater erkannt, als der noch jung und schön war. Putzig auch, wie die alten Leutchen mit bunten Socken rumlaufen oder sich bunt anmalen oder selbstvergessen durch die Welt trampen, bis sie am Meer sind. Immer können sie sich ausdrücken und wirken eher wie naive Hippiekinder als demente Senioren.
Selbst, wenn Demenz Thema in Dokumentationen ist, werden uns noch eher diejenigen erkrankten gezeigt, die gepflegt zurechtgemacht glücklich strahlen, wenn alte Schlager gespielt werden, die sie selbstverständlich fehlerfrei mitsingen können. Weil sie ja in der Vergangenheit leben. Das ist schön, natürlich, und das gibt es auch. Aber das ist nicht, was Demenz am Ende ausmacht. Sie kann sicherlich sehr lange sehr individuell ablaufen und wie weit sie geht, hängt bestimmt von vielen Faktoren ab; nicht zuletzt davon, ob die betreffende Person das Glück hat, zu versterben, bevor ihr Körper nicht einmal mehr weiß, wie Essen geschluckt oder eine Hand gehoben wird. Das ist etwas, was ich nicht wusste: dass Demenz eben auch tödlich ist, hält man lange genug durch.
Was meine größte Angst ist. Und mich deshalb dazu bringt, mich mit dem Gedanken zu quälen, wie sehr ich meiner Mutter das Ende herbeiwünsche. Wenn sie einmal etwas verständlich äußern kann – und dazu müssen sehr glücklich sowohl die körperliche wie die geistige Fähigkeit zeitgleich günstig zusammentreffen – dann macht sie mir klar, sie wünschte, es wäre vorbei. Aber wie kann man seiner Mutter den Tod wünschen, ohne sich wie der schlechteste Mensch der Welt zu fühlen? Da hilft es auch nicht so viel, dass andere, die dasselbe durchgemacht haben, sagen, es wäre absolut ok, das zu wünschen und zu hoffen, denn Demenz ist ein widerliches Drecksvieh, das ziemlich bald kaum etwas von dem Menschen übrig lässt, den man kannte.
Mein Vater starb am 27. August 2012 und wie das mit Vätern so ist, es war nicht immer einfach mit und zwischen uns. Wir waren uns in zu vielem zu ähnlich, regten uns beide schnell auf und knallten daher immer wieder aufeinander. Auf der anderen Seite verstanden wir uns hervorragend, waren wir alleine. Wenn wir beispielsweise ohne Mama und Bruder nach Lindau fuhren und er mir von seiner Kindheit, von Onkeln, Tanten und Schulfreunden erzählte – immer darauf achtend, mir nichts von all dem Negativen zu erzählen, wovon ich erst viel, viel später (und bis heute nur bruchstückweise) erfahren habe. Vom Vater beispielsweise, der strammer Angehöriger der SA war und seine Frau mit Tochter und Sohn noch vor dem Krieg verlassen hat, um in München mit einer anderen Frau zu leben. Mag sein, dass es da Kinder gab; ich weiß es nicht und mein Vater wollte es nicht wissen oder es vergessen. Er sprach nicht davon, wie jung er war, als seine Mutter an Leukämie starb, wobei sie nicht ahnte, wie es um sie stand, weil die Ordensschwestern des Krankenhauses der Meinung waren, man dürfe sterbenden Menschen nicht jede Hoffnung nehmen. Nur aus Andeutungen habe ich gelernt, dass seine Großmutter für ihn und die ältere Schwester gesorgt hat und immer zu stolz war, um Armenhilfe anzunehmen.
Wenn wir in Lindau waren, hat mein Vater nie vergessen, auf die Kirchkuppel zu weisen und mir zu erzählen, da oben habe er seine Meisterprüfung zum Spengler abgelegt, um kurz danach eine zweite Ausbildung zum Installateur zu beginnen. Er hat seinen Lohn gespart und sich, weil er für die damalige Zeit und wohl auch die Gegend zu lang und zu dünn für Konfektionskleidung war, maßgeschneiderte Hosen und Jacketts leisten zu können; von der Schwester hatte er wohl auch etwas nähen gelernt (für meine Mutter hat er ein Kleid angefertigt und als ich mit dem Nähen anfing, hat er mit großer Freude meine Stücke gelobt).
Ich komme ins Plaudern und vermutlich klingt das jetzt so, als wären wir uns unglaublich nah gewesen. Was auch stimmt. In mancher Hinsicht.
Doch seine Reizbarkeit, seine Wutausbrüche, ausgelöst durch die ständige finanzielle Sorge, wenn wieder einmal die Firma entschied, es wären zwar Überstunden nötig, wollte man die Stelle behalten, die würden aber eine Weile lang nicht bezahlt werden (während der Vorstand neue Dienstwagen bekam …) – die bekam häufig ich ab, die so gar nicht bereit war, ihm um den Bart zu gehen oder zu allem Ja zu sagen. Was mein Vater richtig fand. Eigentlich. Später, als er sich selbstständig machte und es richtig gut lief, war er ein völlig anderer Mensch; es tat ihm wohl, einmal nicht auf jeden Pfennig schauen zu können. Und so sehr er auch schimpfte, wenn ich schon wieder umzog, so war er doch mit Begeisterung dabei, die neue Wohnung fit zu machen – auch da arbeiteten wir gut zusammen.
Ja, wirklich, ich könnte nun sehr lange über meinen Vater sprechen, aber was ich eigentlich möchte: Ich möchte einige der Briefe, die er meiner Mutter nach Bonn geschickt hat, hier nach und nach einstellen. Ich weiß, es wäre ihm ein bisschen peinlich gewesen und natürlich werde ich alles auslassen, was er für unangebracht gehalten hätte. Aber er wäre eben auch stolz darauf gewesen, dass ich sie für so wichtig hielte, um sie eben nicht irgendwann zu vernichten.
Was meine Mutter dazu sagen würde? Das werde ich nicht wissen können; sie weiß nur selten noch, wer dieser Alfred überhaupt war und gelegentlich erkennt sie auch mich nicht mehr. Sie hat nie gerne über die Vergangenheit gesprochen, dazu bekam ich sie nur selten, obwohl ich es so sehr mochte. Aber sie hat seine Briefe aufgehoben und war oft böse darüber, dass er das nicht getan hatte – wobei mein Vater einmal meinte, sie habe gesagt, er soll sie verbrennen.
Ich müsste auf die Suche nach dem Familienbuch gehen, um sagen zu können, wann sie geheiratet haben. Doch ich weiß in etwa, wie sie sich kennengelernt haben: Meine Mutter war mit ihrer Mutter in den Urlaub nach Lindau gefahren; im Sommer 59 war das. Meine Großmutter – über die ich jetzt gerade nicht reden will, auch wenn es schwerfällt – ließ meine Mutter nie aus den Augen, fiel nur leider dem Föhn am Bodensee zum Opfer und musste zwei Tage mit Migräne im Hotel verbringen. Weshalb meine Mutter, Anita, dann doch mal alleine durch die schöne Stadt im Bodensee spazieren durfte. Direkt an der Promenade hockten einige Jünglinge, die sofort anfingen, Namen zu rufen in der Hoffnung, es wäre auch derjenige meiner Mutter darunter. Was sie – natürlich – unangenehm und aufdringlich fand, zumal sie nicht ausweichen konnte und an der Bande vorbeimusste.
Mein Vater, Alfred, löste sich bald aus der Gruppe, kam zu ihr und entschuldigte sich für die Idioten. Abends gingen sie im lieben Augustin essen und tanzen. Weshalb ich heute hier sitzen und darüber schreiben kann …
(Das zumindest war, was meine Mutter mir erzählte. Als ich einige der späteren Briefe las, musste ich entdecken, sie hat gelogen. Tja.)
Liebe Anita!
Meine Gedanken weilen bei Dir. Was wirst Du in Deiner Freizeit wohl machen? Ich warte schon seit Tagen auf Post von Dir. Hast du meine Karte Zum lieben Augustin bekommen? Heute ist es sehr schön. Wie die vergangenen Tage auch. Ich sitze bei uns am See und schreibe diesen Brief. Es ist mein erster an ein Mädchen. Seit Deiner Abreise war ich nicht mehr tanzen. Ich habe mir vorgenommen, keine neuen Bekanntschaften mehr zu machen. So gerne möchte ich bei dir sein. Dann könnte ich mit Dir meine freien Stunden und Sonntage verbringen und mir wäre es nicht so einsam. Mit Dir zu tanzen und plaudern war zu schön. So glücklich wie am Abend unserer Bekanntschaft war ich schon lange nicht mehr. Ich höre noch die Worte, die Du mir beim Tanzen gesagt hast.
Anita, ich liebe Dich von Herzen! Es vergeht kein Tag, an dem ich das nette Bild von Dir nicht anschaue. Und im Stillen wünsche ich mir, Du wärst meine kleine, süße Braut. Ich spare schon auf die Fahrt zu Dir, auf die ich mich mächtig freue. Dich dann in meine Arme schließen, in Deine schönen, großen Augen sehen und Deinen roten Mund zu küssen, wir mein größtes Glück auf Erden sein. Ich gedenke, in Bonn eine Arbeitsstelle zu suchen, wenn es Dir recht ist, um für immer bei Dir zu sein. Um bis dahin die Langeweile zu vertreiben, suche ich mich Hause zu beschäftigen. Bei schönem Wetter gehe ich am Sonntag zum Baden. Bitte schreibe mir das Datum von Deinem Geburtstag, auch vom Namenstag. Ich konnte ihn im Kalender nicht finden. Nun werde ich schließen und hoffe, von Dir recht bald einen lieben Brief zu erhalten.
Es grüßt Dich herzlich Dein Alfred Bitte entschuldige meine ungeübte Schrift!
Liebe Anita, tausend Dank für Deinen herzigen Brief.
Es ist nett von Dir, dass du viel an Lindau denkst. Dabei hoffe auch ich, nie vergessen zu werden. Du wirst doch meinen Briefen erhalten haben? Am Dienstag habe ich um 15:00 Uhr zu arbeiten aufgehört, um zum Zahnarzt zu gehen. Zuvor bin ich nach Haus, um mich umzukleiden. Ich hatte schon so eine Vorahnung, von Dir Post vorzufinden, und wurde auch nicht enttäuscht. Die Freude, von Dir zu hören, ließ mich beim Zahnarzt die Schmerzen vergessen.
Wie kannst du nur denken, dass ich Deine Briefe in den Aschenbecher werfen werde. Ich möchte gerne wissen, ob Du mich auch ein wenig liebst. Meine Liebe habe ich Dir versprochen und will sie auch nur Dir schenken. Wenn ich mal in Bonn bin, möchte ich auch ins „Tabu“ gehen, natürlich nur mit Dir. Entschuldige bitte, wenn ich sehr neugierig bin. Aber ich wüsste gern, ob ein Freund dabei war oder ob Du einen hast. Die „weiße Maus“ ist ein heiteres und nettes Andenken, Ja, die Hetze des Alltags scheint alle Menschen, ob jung oder alt, zu plagen. Arbeiten bleibt uns mal nicht erspart, deshalb lassen wir doch nicht gleich die Stimmung fallen. Mit Humor geht alles leichter.
Am Sonntag war ich zum Kurkonzert am Hafen und habe mir das Treiben der Fremden angesehen. Baden war ich nicht, dazu es mir zu frisch und windig. Nachts und in der Früh wird es schon sehr kühl, tags ist schönes und warmes Wetter. Aber auch das schlechteste Wetter kann mich nicht trübe stimmen, wenn Du mir öfters ein wenig schreibst.
Mit Sehnsucht im Herzen grüßt dich lieb Dein Alfred
Mein Vater hat es mir gegenüber oft erwähnt, wie sehr er darunter litt, keine höhere Bildung erhalten zu haben; immer war er zurückhaltend, wenn es ums Schreiben ging.
Was zu der – für mich bis heute unvergessenen – Größe führte, mich schon als Achtjährige zu bitten, ihn zu korrigieren, wenn er etwas falsch geschrieben haben sollte. Als Leseratte, Aufsatzschreiberin und im Fach Deutsch mit einer Eins belohnten Tochter hielt er mich für kompetent genug, das zu tun. Ohne, dass er sich dafür geschämt hätte.
Ich glaube, das ist eine meiner wichtigsten und schönsten Erinnerungen an ihn.
Liebe Anita, besten Dank für Deine Briefe. In Deinem ersten Brief schreibst Du von einem alten Freund. Zu was darf ich mich zählen? Bekannter? Freund? Oder als was? Noch manche Fragen, die ich in den letzten Briefen an Dich gerichtet habe, hätte ich auch noch gerne beantwortet.
Bei diesem herrlichen Wetter kann man schon noch Fremde antreffen. Noch ist die kleine Stadt nicht im Winterschlaf. Am vergangenen Sonntag war ich im ‚Rathaus‘ mit Walter, einem Bekannten, tanzen. Wir saßen mit neun Mittelschülerinnen aus Frankfurt a. M. an einem Tisch zusammen. Es hat sehr Spaß gegeben, als Walter den Mädchen aus den Händen gelesen hat. Gestern war ich mit Walter im ‚Excelsior‘. Aber mein Herz hat beim Tanz allzusehr bum bum gemacht, darum habe ich mich mehr am Weine gelabt. Meine Gesundheit steht etwas in Frage. Mein Arzt sagt, ich sollte meine Mandeln herausoperieren lassen. Darum habe ich die letzte Zeit etwas Herzbeschwerden. Oder ist es die Sehnsucht nach Dir, meine sehr geliebte Anita?
Du kannst ja sehr gut und ausdrucksvoll zeichnen. Das finde ich nicht blöde, nur etwas gewagt für die Gefühle und Gedanken eines Mannes mit so viel Sehnsucht. Und der gewagte Blick, hoffe ich, will mir sagen, dass du mich ein klein wenig liebst.
Im besten Glauben grüsst Dich herzlich Dein Alfred
Es ist nach wie vor sehr eigenartig für mich, die Briefe meines vierundzwanzigjährigen Vaters zu lesen und dabei nicht zu wissen, was meine Mutter geantwortet und gefragt hat. Manches ist offensichtlich; in den meisten Briefen, die ich bis jetzt durchgesehen habe, scheint mein Vater das Schreiben meiner Mutter abzuarbeiten, weshalb er oft zwischen Themen zu springen scheint. Was mir in diesen ersten Briefen nur vage ersichtlich war, verstärkt sich später noch: Mein Vater war einsam, obwohl er viele Freunde hatte und offenbar zuvor auch eine Freundin. Aber ich will nicht zu viel verraten; es ist erstaunlich, wie viel mit der weiteren Korrespondenz zu Tage tritt, wovon ich nichts wusste.
Was ich aber sehr schön finde: Immer wieder schimmert etwas wie Heimatfilm und Urlaubsstimmung durch. Ich weiß, wie wunderbar meine Mutter den ersten Besuch am Bodensee fand, wo keine Kriegsschäden zu sehen waren und man sich einbilden konnte, alles wäre himmelblau und rosarot. Als geborene Kölnerin war für sie der Unterschied frappant – selbst ich kann mich noch an Trümmergrundstücke in Bonn erinnern, die erst im Laufe der 1970er beseitigt wurden.
Zu meiner Mutter bekomme ich übrigens noch einmal eine andere Einstellung, aber dazu vielleicht beim nächsten Mal mehr.